Einfach mal den Stecker ziehen

Von Nadine A. Brügger, 17. Juli 2019

Einfach mal den Stecker ziehen
Smartphones sollten uns das Leben erleichtern. Warum brauchen immer mehr Menschen Ferien davon? (iStock)

Praktisch immer sind wir via Smartphone erreichbar. Auch in den Sommerferien? «Nein», entscheiden immer mehr Schweizerinnen – und machen Digital Detox.

Die meisten von uns tun es als letztes vor dem Einschlafen und als erstes nach dem Aufwachen. Wir tun es mindestens 50 Mal am Tag. Tendenz rapide steigend. Wir lassen uns davon gut und gerne alle 20 Minuten von dem ablenken, was wir eigentlich tun sollten. Was? Wir greifen zum Smartphone.

Musik hören, fotografieren, spielen, sich informieren, chatten, E-Mails verschicken – die Liste an Dingen, die wir dank unserem Smartphone irgendwo und irgendwann erledigen können, wäre endlos fort zu führen. Ach ja, ab und an telefonieren wir damit dann auch noch.

«Nackt» und «einsam

Ein winziges Gerät mit endlos vielen Funktionen. Auf den ersten Blick erscheint das äusserst praktisch. So empfinden auch zwei Drittel der Bevölkerung – und tragen das Smartphone ständig mit sich herum. Ohne fühlen sie sich, wie eine spontane Umfrage am Zürcher Hauptbahnhof zeigte: «nackt», «komisch», «einsam», «unsicher», «unwohl» oder «aufgeschmissen».

Das erstaunt kaum, ist das Handy uns doch Uhr, Fahrplan, Agenda, Briefkasten und Kummertante. Die Möglichkeiten, die das Mobiltelefon für uns bereit hält, werden für viele aber zum Muss. Aus «ich könnte», wird «ich sollte». Ständige Erreichbarkeit, das stete Verwischen von Arbeitszeit und Feierabend: Rund ein Viertel aller Handy-Nutzer fühlt sich dadurch laut einer Studie aus Deutschland gestresst und unter Druck gesetzt. Womöglich sind es mehr – sie haben ihr blinkendes und piependes Gerät bloss noch nicht als Quell des Ungemachs erkannt.

Jede zweite Schweizerin und jeder zweite Schweizer möchte einen Digital Detox machen.

Wir «brauchen» das Handy kaum

Eine weitere Studie, durchgeführt vom Informatiker Alexander Markowetz, Professor an der Uni Bonn, ergab 2015, dass seine 60’000 Probanden durchschnittlich zweieinhalb Stunden am Tag mit ihren Smartphones online waren. Die meisten Smartphones zeigen ihren Besitzern übrigens mittlerweile an, wie lange sie durchschnittlich – und an spezifischen Tagen – auf den Bildschirm gucken.

Am meisten Zeit investierten die Testpersonen in die Kommunikation via WhatsApp und anderen Nachrichtendiensten. Auch für das Vernetzen auf Facebook oder Instagram ist zeitintensiv. Markowetz wollte zudem wissen, wie viel Zeit seine Probanden damit verbrachten, an ihrem Telefon konkret nützliche Dinge zu erledigen. Jene Dinge also, mit denen wir unseren regen Handy-Konsum rechtfertigen. Es sind knapp sieben Minuten pro Tag.

Das Handy verändert uns

Dieses Verhalten verändert uns. «Wir bekommen Twitter-Gehirne», erklärte kürzlich die Leserforscherin Maryanne Wolf in der «NZZ». Das Lesen am Bildschirm, statt vom Papier, verändert die Art, wie unser Gehirn die aufgenommenen Informationen verarbeitet. Statt in einen Text einzutauchen und die Informationen aufzunehmen, sind wir von Links, Bildern und Videos abgelenkt. «So verkümmern die Bereich in unserem Gehirn, die für kritisches Denken zuständig sind», erklärt Wolf. Komplexes, langwieriges Nachdenken war gestern. Heute wird überflogen.

Das Lesen am Bildschirm, statt vom Papier, verändert die Art, wie unser Gehirn die aufgenommenen Informationen verarbeitet.

Letzteres hängt auch damit zusammen, dass wir uns immer schlechter konzentrieren können. Nur zu gerne lassen wir uns von dem kleinen, blinkenden Diktator ablenken. Im Jahr 2000 waren wir Menschen noch fähig, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit rund 12 Sekunden dem gleichen Sachverhalt oder Objekt zu widmen. Nur 13 Jahre später, 2013, waren es noch acht. Das ergab eine Studie des Tech-Giganten Microsoft. Damit ist unsere Aufmerksamkeitsspanne nun offiziell kürzer, als jene eines Goldfischs. Diese soll nämlich bei rund neun Sekunden liegen.

Kann Digital Detox helfen?

Es scheint also angezeigt, das Smartphone hie und da aus der Hand zu legen und stattdessen nach einem Buch zu greifen. Oder einem Grashalm. Oder wonach auch immer einen in der analogen Welt der Sinn steht.

Die Beratungsfirma Deloitte wollte von Schweizerinnen und Schweizern wissen, ob auch ihnen der Handy-Konsum manchmal zu viel werde. «Ja», sagte rund die Hälfte. Wird der Handy-Konsum punktuell reduziert, sprechen Spezialisten von einer «Digitalen-Diät». Dazu entscheiden sich viele Familien. Sie verbannen die Smartphones meistens vom Esstisch und ab und zu vom Nachttisch. Oft werden auch klare Handy-freie Zeiten abgemacht. Etwa vor dem Zubettgehen.

Andere entscheiden sich dazu, das Handy ganz weg zu legen. «Digital-Detox» nennen sie das – die digitale Entgiftungskur. Dazu entscheiden sich vor allem Menschen zwischen 25 und 34 Jahren. Die Mehrheit von ihnen hat einen Hochschulabschluss, eine Kaderposition – und ist männlich. Das ergab eine Analyse des Global Web Index. Die gleiche Analyse ergab auch, dass acht von zehn «Detoxern» die Handy-freie Zeit als entspannend wahrgenommen hätten. Wurde die Sehnsucht zu gross, dann meist aus zwei Gründen: Der Angst, etwas zu verpassen, wenn nicht ständig kontrolliert werden kann, was die Freunde tun oder die Chefin will. Dazu: Langeweile. Was tun, wenn man im Bus sitzt oder am Kaffe-Tresen auf den Cappuccino wartet?

Zwei Drittel der Bevölkerung tragen das Smartphone ständig mit sich herum.

Die Künstlerprojektgruppe Seymour+ hat sich mit genau dieser Frage beschäftigt. Ihr Tipp: Machen Sie doch mal ein innerliches Selfie. Statt sich für die Sozialen Medien zu inszenieren, sollen Menschen viel mehr in sich hinein horchen. Wie geht es mir? Wie fühle ich mich gerade? Worauf habe ich heute Lust? Diese innere Bestandsaufnahme ist nichts anderes, als eine einfache Übung in Achtsamkeit. Dies wiederum eine stetig populärer werdende Strategie, um die Gedanken zu bündeln, die Seele zu entschlacken, Ausgeglichenheit und Konzentration zu finden – und das Mobiltelefon im gesunden Mass einzusetzen.

Ein Artikel mit Fakten und Anleitungen vom Psychologen zum Thema Achtsamkeit ist hier nachzulesen.

Nadine A. Brügger ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.

 

Empfehlen Sie diesen Beitrag weiter: