Damit die Stimme weiterlebt

Von Danica Gröhlich, 30. November 2022

Lebensgeschichten, Lieder und Lachen: Franziska von Grünigen hält mit dem Mikrofon Persönliches fest. (Credit: Barbara Hess)

Was vom Leben nachklingt: Audiobiografien, die den Familien nach dem Tod bleiben. Über tröstliche Worte, bewahrte Schätze und magische Momente bei den Aufnahmen.

«Ich verstehe mich als Expeditionsleiterin, die den Weg weist und eine stützende Hand bietet», erzählt Franziska von Grünigen, deren Stimme man von SRF3 kennt, über ihre Herzensprojekte. Als Audiobiografin hält sie mit «Mein Nachklang» Lebensgeschichten von Menschen fest, die wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. So bleiben deren Stimmen als akustisches Vermächtnis. Bei ihrer Arbeit kommt sie mit Menschen in Kontakt, die auf ein langes Leben zurückschauen können, aber auch mit jungen Müttern und Vätern die wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Für diese hat sie vor zwei Jahren den Verein Hörschatz mitgegründet.

Franziska von Grünigen, bei solchen Aufnahmen fliessen sicherlich Tränen. Oder wird auch gelacht?
Beides! Oft sind die Aufnahmen ein Wechselbad der Gefühle. Als besonders emotional empfinde ich jene Aufnahmen, die ich im Auftrag des Vereins «Hörschatz» umsetze. Wenn die jungen unheilbar kranken Väter oder Mütter Worte an ihre Kinder richten, fliessen immer wieder Tränen – gelegentlich auch bei mir, während ich mit dem Mikrofon dabeisitze. Diese Tränen der Eltern, die Trauer und Verzweiflung über die ausweglose Situation sollen im Aufnahme-Prozess Platz haben. Sie finden aber «Off the Record» statt. Für den Hörschatz schaffen es die Eltern dann, wieder gefasst stärkende Worte zu formulieren, die dem Kind später einmal guttun und Kraft geben sollen. Aber tatsächlich wird auch viel gelacht. Bei unseren Aufnahmen steht nicht der nahende Tod im Zentrum. Vielmehr geht es darum, das gelebte Leben noch einmal zu feiern und auf all das Schöne zurückzuschauen, das war.

Welche Momente sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Es gibt so viele leichte und beschwingte, aber auch bewegende Momente während der Aufnahmen, dass ich mich nicht festlegen möchte. Mir kommt aber Sandra in den Sinn, eine Mutter mit Krebsdiagnose, die in ihrer eigenen Kindheit wenig zu lachen hatte. Kürzlich empfing sie mich für Aufnahmen für ihre Teenager-Tochter in ihrem Wohnzimmer. Für ihren Hörschatz erzählte Sandra mit schallendem Lachen eine lustige Anekdote nach der anderen. Wir haben Tränen gelacht. Ich bin überzeugt, dass schon nur dieses festgehaltene Lachen ein wunderbares Erbe ist, das Sandra ihrer Tochter einmal hinterlassen wird.

Franziska von Grünigen, Radiomoderatorin bei SRF3 und Audiobiografin (Credit: Christian Schaad)

Gibt es den Betroffenen, meist Sterbenskranken, noch einmal Energie für diese letzten Aufnahmen?
Absolut. Das erlebe ich beim Aufnehmen durch alle Altersschichten, bei der 35-jährigen Mutter eines Kleinkindes wie auch bei einem 89-jährigen Mann am Ende seines langen Lebens. Kurz vor dem Tod nochmals auf das zurückzuschauen, was man erreicht, erlebt und erschaffen hat, gibt ein Gefühl von Genugtuung, stiftet Sinn und gibt Würde. Im Kontakt mit schwerstkranken Menschen lasse ich deshalb immer wieder Ansätze aus dem Konzept der «Würdezentrierten Therapie» nach Harvey Max Chochinov einfliessen. Sandra, die aufgrund ihres Tumors unter Taubheitsgefühlen am Arm litt, spürte während der Aufnahme plötzlich wieder etwas. «Es fliesst Leben in mich», sagte sie ganz überwältigt. Solche magischen Momente habe ich schon mehrmals erlebt.

Was möchten die Menschen hinterlassen?
Das ist ganz unterschiedlich. Die einen möchten ihren Liebsten noch einmal sagen, was sie ihnen bedeuten, anderen ist es wichtig, die Familiengeschichte festzuhalten, ein Familienrezept, ein Gutenachtlied, Anekdoten aus der Jugend. Wieder andere schauen auf Meilensteine zurück, auf besonders prägende, schöne oder wegweisende Momente. Wenn ich für «Nachklang »-Aufnahmen unterwegs bin, arbeite ich gerne mit meinem biografischen- Fragenset, mit dem wir in ganz unterschiedliche Lebensbereiche eintauchen können: Etwa «Worauf bist du stolz?», «Wovor hast du keine Angst mehr?» oder «Wann wärst du gerne mutiger gewesen?».

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben klingt aber auch für Menschen interessant, die nicht unmittelbar mit dem Tod konfrontiert sind.
Ja, der Streifzug durch das eigene Leben lohnt sich auch für gesunde Menschen – egal, ob mitten im Leben oder im fortgeschrittenen Alter. Es ist ein bewusstes Innehalten, (Zwischen-)Bilanz ziehen, Festhalten der Erinnerungen. Meine «Nachklang»-Kundinnen und -Kunden sind denn auch zwischen 40 und 95 Jahre alt, teils kerngesund, teils gesundheitlich angeschlagen. Und manchmal sind es die erwachsenen Kinder, die sich wünschen, dass der Vater oder die Mutter die Erinnerungen festhält – schliesslich weiss man nie, wann es dafür zu spät ist.

Ihnen ist die Stimme Ihres Vaters, dem Radiomacher Heinrich von Grünigen, geblieben. Hören Sie sich manchmal alte Aufnahmen an?
Dass mir die Stimme meines Vaters in 24 Hörkapiteln geblieben ist, ist ein Glücksfall: Ich habe ihn an Weihnachten 2020 in einem akustischen Adventskalender darum gebeten, jeden Tag eine meiner Fragen mit einer WhatsApp-Sprachnachricht zu beantworten. Acht Monate später ist er im Alter von 80 Jahren unerwartet verstorben. Ich habe seine Antworten direkt nach dem Tod intensiv gehört und ihn so als sehr präsent empfunden. Auch heute noch habe ich das Gefühl, er ist bei mir, wenn ich ihn vermisse. Es bedeutet mir viel, dass ich diesen Schatz bewahren konnte.

Haben Sie Ihre Stimme auch bereits für Ihre Kinder festgehalten?
Es gibt einige «Gschichtli», die ich aufgenommen habe, als sie noch klein waren. Zudem ein kleiner Selbstversuch aus meiner Weiterbildung zur Palliativ-Audiobiografin. Aber ein ganzes «Werk» habe ich noch nicht. Wenn ich jetzt überraschend sterben würde, blieben meinen Kindern immerhin ein paar hundert Stunden Archivmaterial aus meiner Zeit bei SRF. Wäre ich selber wissentlich von einer lebensbedrohenden Krankheit betroffen, würde ich ihnen aber auf jeden Fall einen Hörschatz aufnehmen. Sie lieben es, wenn ich vor dem Einschlafen von früher erzähle – auch wenn es die immer gleichen Geschichten sind. Die Vorstellung, dass sie diese Geschichten auch nach meinem Tod noch hören könnten, bringt mich zum Schmunzeln und hat gleichzeitig etwas Tröstliches.


Zwei Angebote, die Stimmen festhalten

Gemeinsam mit Gabriela Meissner hat Franziska von Grünigen 2020 den Verein «Hörschatz» gegründet: Der Verein ermöglicht schwerstkranken Eltern, ihren minderjährigen Kindern eine Erinnerung, einen Hörschatz zu hinterlassen. In eigenen Worten erzählen Palliativ- PatientInnen ihren Familien, was ihnen wichtig ist, was von ihnen bleiben soll. Der Verein «Hörschatz» vermittelt Audiobiografien an betroffene Familien und organisiert die Finanzierung durch Spendengelder und Fundraising.

Weitere Informationen zum kostenlosen Angebot für unheilbar kranke Eltern mit minderjährigen Kindern:
www.hoerschatz.ch

Zudem bietet Franziska von Grünigen mit «Mein Nachklang» Audiobiografien für Selbstzahlende an:
www.mein-nachklang.ch


Danica Gröhlich ist freie Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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