Wege aus der Isolation

Von Ginette Wiget, 16. November 2022

Sozialer Rückzug: Wer besonders unter Einsamkeit leidet. (iStock)

Einsamkeit ist weit verbreitet. Sie kann nicht nur psychisch, sondern auch körperlich krank machen. Was Betroffene dagegen tun können und was sich gesellschaftlich ändern muss.

«Menschen, die einsam sind, reden meist nicht gerne darüber», sagt die emeritierte Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello von der Universität Bern. Laut Bundesamt für Statistik litten 2017 fast 40 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren unter Einsamkeit. «In der Pandemie hat sich das Problem sogar noch verschärft», sagt die Expertin. Sie erklärt uns, weshalb Einsamkeit ein Tabu ist, welche Folgen sie haben kann und was sich dagegen tun lässt.

Frau Perrig-Chiello, ist Einsamkeit grundsätzlich etwas Schlechtes?
Nein, nicht wenn sie selbst gewählt ist. Aber Einsamkeitsgefühle aufgrund fehlender sozialer Beziehungen sind quälend und können mit der Zeit krank machen. Am schlimmsten sind Einsamkeitsgefühle nach dem Verlust eines intimen Partners.

Weshalb trauen sich viele nicht, über ihre Einsamkeit zu sprechen?
Soziale Kontakte zu haben und beliebt zu sein, galt schon immer als erstrebenswert. Einer Gruppe zuzugehören war früher überlebenswichtig, heute ist Beliebtheit auch ein Statussymbol. Wer viele Freunde hat, gilt als erfolgreich, wer wenig Freunde hat, gilt als unbeliebt oder als sozial randständig. Niemand möchte so gesehen werden, also schweigt man lieber.

Zu den Einsamkeitsgefühlen kommt also Scham hinzu?
Ja, Einsamkeit ist mit Scham verbunden, und oft mit einem verminderten Selbstwertgefühl. Der Betroffene glaubt, etwas stimme nicht mit ihm, er sei nicht liebenswert. Dies zehrt nicht nur am Selbstwert, sondern wirkt sich auch auf die Gesundheit aus.

Pasqualina Perrig-Chiello, Prof. em. Dr. Entwicklungspsychologie, Universität Bern (zVg.)

Welche gesundheitlichen Folgen sind inzwischen erwiesen?
Einsamkeit ist keine Krankheit, aber sie ist auf Dauer gesundheitsschädlich und kann sogar tödlich sein. In vielen Studien wurde nachgewiesen, dass Einsamkeit wie Dauerstress wirkt und mit einem Lebensstil einhergeht, der eine schlechtere körperliche, psychische und kognitive Gesundheit zur Folge hat. Untersuchungen zufolge ist Einsamkeit schädlicher als 15 Zigaretten pro Tag und schädlicher als Fettleibigkeit. Einsamkeit verdoppelt zudem das Risiko für Alzheimer.

Wer ist besonders gefährdet, an Einsamkeit zu leiden?
Gefährdet sind zum einen junge Menschen, welche besonders auf soziale Kontakte angewiesen sind. Zum anderen sind hochaltrige Menschen besonders gefährdet, ebenso Migrantinnen und Migranten. Auch Bildung und die finanzielle Lage spielen eine Rolle. Denn sich zu informieren und sich etwas leisten zu können, kann vor Einsamkeit schützen. Häufige Risikofaktoren sind auch kritische Lebensereignisse wie Verwitwung oder eine Scheidung. Gefährdet sind zudem pflegenden Angehörige, sie sind oft dermassen eingebunden in die Betreuung, dass sie den Kontakt mit Freunden verlieren.

Wie merke ich, ob jemand einsam ist?
Das ist nicht einfach zu erkennen. Denn es ist ja ein Merkmal der Betroffenen, die Einsamkeit zu verheimlichen. Trotzdem gibt es einige Anzeichen wie etwa sozialer Rückzug. Das kann heissen, dass die Person nicht ans Telefon geht oder Textnachrichten nicht mehr beantwortet. Man merkt es manchmal auch daran, dass Betroffene niedergeschlagen wirken, oft auch reizbar sind. Aber solche Anzeichen können natürlich auch auf andere Probleme hinweisen.

Wie gehe ich am besten auf jemanden zu, der einsam wirkt?
Es ist wichtig, der Person nicht das Gefühl zu geben, etwas stimme nicht mit ihr. Denn dies kann dazu führen, dass sie sich noch mehr zurückzieht. Ich rate, ungezwungen und auf Augenhöhe auf die Person zuzugehen. Hingegen würde ich vermeiden, Hilfsangebote zu empfehlen. Das kommt meist nicht gut an. Steigen Sie ins Gespräch mit Alltagsthemen ein. Wenn es gut läuft und Sie Lust haben, können Sie die Person auf einen Kaffee einladen, vielleicht noch mit jemand anderem zusammen, das wirkt ungezwungener.

Was können Betroffene tun, um der Einsamkeit zu entkommen?
Selbstmitleid ist häufig, aber keine Lösung. Manchmal hilft es, sich zu sagen, dass man nicht alleine ist mit diesem Problem. Wichtig ist, Selbstverantwortung zu übernehmen. Es sind nicht die anderen, die auf einem zugehen müssen. Ein weiterer Tipp ist zuzuhören. Denn beliebte Gesprächspartner sind diejenigen, die gute Zuhörer sind und Interesse zeigen. Es lohnt sich auch, nach Angeboten zu suchen, wo man Leute treffen kann, inzwischen gibt es doch einiges. Auch ein Haustier kann eine gute Gesellschaft sein. Mit einem Hund zum Beispiel kommt man aus dem Haus und trifft beim Spazieren auf andere Hundehalter.

Was müsste sich gesellschaftlich ändern, damit sich weniger Menschen einsam fühlen?
Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, die das Glück des Einzelnen in den Vordergrund stellt. In der Schweiz haben wir mittlerweile mehr Einpersonen als Mehrpersonenhaushalte. Stiftungen und private Organisationen haben die gesellschaftliche Dimension der Einsamkeit erkannt und nehmen sich der Problematik an. Doch es bräuchte auch auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene mehr Angebote sowie Kampagnen, um Einsamkeit zu enttabuisieren. Es gibt Staaten, die uns hier voraus sind. So hat Grossbritannien eine nationale Strategie gegen Einsamkeit und zu diesem Zweck ein Ministerium gegründet. Ich bin überzeugt, dass die Schaffung von mehr niederschwelligen Angeboten eine grosse Hilfe wäre. Deshalb unterstütze ich als Fachperson das Projekt «malreden», das sich an einsame Seniorinnen und Senioren wendet. Aber es braucht auch ein grösseres Engagement der Politik.


Hilfsangebote für Einsame

Malreden
An der malreden-Hotline 0800 890 890 können sich Interessierte von 9 bis 20 Uhr kostenlos und vertraulich mit einem einfühlsamen Gegenüber austauschen. Möglich sind auch langfristige Gesprächspartnerschaften.
www.malreden.ch

Tavolata
Wer Lust hat, mit anderen zu kochen und zu essen, kann sich einer lokalen Tavolata-Gruppe anschliessen.
www.tavolata.ch

Selbsthilfe
Selbsthilfegruppen für Einsame unter
www.selbsthilfeschweiz.ch


Ginette Wiget ist freie Mitarbeitern bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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