Feierabend für den Autopiloten

Von Nadine A. Brügger, 5. Juni 2019

Eine Tasse Kaffee wird vom Pausengetränk zu etwas ganz besonderem, wenn man sie achtsam geniesst. (iStock)

Wem es gelingt, im Augenblick zu leben, der findet zu neuer Kraft. Und hat mehr Kontrollgefühl über sein Leben. Zwei Experten erklären, was Achtsamkeit ist.

Stellen Sie sich vor: Sie wachen mit pochenden Kopfschmerzen auf. Bleiben Sie zu Hause? Oder ist so viel los auf der Arbeit, dass Sie doch hingehen? Haben Sie dann auch schon erlebt, dass der Schmerz ohne Schmerzmittel den Tag hindurch in den Hintergrund trat?

«Wir Menschen haben unglaubliche Kräfte», sagt Andreas Dörner, Leiter der psychoonkologischen Therapien am Basler Claraspital. «Wenn es uns gelingt, unseren Aufmerksamkeitsfokus zu verschieben, können wir Schmerzen besser aushalten oder gar Heilungsprozesse beschleunigen.»  Denn Angst, Stress und innerer Druck führen dazu, dass der Körper mehr Cortisol produziert. Dieses überreizt das Immunsystem, kann zu schlechterem Schlaf, einem trägen Verdauungstrakt und grundsätzlicher Niedergeschlagenheit führen.

Andreas Dörner, Leiter der psychoonkologischen Therapien. (zvg)
Stephan Ebner, stellvertretender Direktor des Claraspitals. (zVg)


Gegen Angst und Schmerz
Doch wie verschiebt man seinen Fokus, wenn der Schmerz unerbittlich im Körper pocht? Oder die Angst einem in den Gliedern steckt? «Wenn jemand beispielsweise eine Krebsdiagnose erhält, fühlt er sich bedroht und sein Gehirn schaltet in den Flucht- oder Kampfmodus», sagt Psychologe Dörner. Wie verläuft die Operation? Ertrage ich die Nebenwirkungen einer Chemotherapie? Bin ich in einem Jahr noch am Leben? Fragen wummern im Kopf. Die Kontrolle über das eigene Leben scheint verloren.

«Da hat die Achtsamkeit ihren Platz. Denn sie hilft, im Augenblick zu sein, statt an die fortschreitende Erkrankung in der Zukunft zu denken. Dann bin ich mit dem Kopf und den Gefühlen im Hier und Jetzt. Das nimmt die Angst», erklärt Dörner. «Ich habe vielleicht keinen Einfluss darauf, wie die Therapie wirkt, aber ich kann entscheiden, was ich heute mache oder wohin ich morgen gehe. Das Gestalten gibt einem Kontrolle zurück. So kommen die Patienten aus der Haltung heraus, sie seien nur Opfer ihres Schicksals»

Das Claraspital bietet «Mindfulness-Based Stress Reduction» (zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), kurz MBSR, Kurse an. Sie helfen Patienten und ihren Angehörigen, in dunklen Zeiten Lichtblicke auszumachen. Oft werden die Kurse auch bei Schmerzpatienten angeboten. «Man kann Schmerz nicht in jedem Fall wegdenken und manchmal helfen nur Schmerzmittel», sagt Dörner. «Aber gerade bei chronischen Schmerzen hilft es, den Fokus vom versehrten Körperteil weg zu lenken und auf all jene Teile des Körpers zu richten,  in denen ich Wohlbefinden spüre.»

Achtsamkeit für Alle
Die Angst vor der Zukunft weiche, wenn man sich auf die Gegenwart konzentriere. Schmerz und Stress treten in den Hintergrund, wenn man seinen Fokus verschiebe. Warum? «Wir wenden da einen ganz einfachen Trick an: Das Gehirn kann nur einen Gefühlszustand aufs Mal wahrnehmen. Wenn wir im Hier und Jetzt fühlen und denken, fehlt für diesen einen Moment die Kapazität, sich um das Morgen zu sorgen», erklärt Dörner. Und das gebe Luft zum Atmen – und neue Energie zum inneren Heilen.

Damit Achtsamkeitsübungen allerdings ihre Wirkung entfalten, brauche es auch einen Tick Offenheit. «Achtsamkeit ist nichts Mystisches. Sie beruht auf der alltäglichen Erfahrung, dass Körper und Geist eines sind. Ist die Psyche krank, merken wir das auch körperlich -–und umgekehrt.»

Kaffeetrinken
Eine tägliche Übung des Im-Moment-Seins kann zum Beispiel die Kaffeepause werden. Statt Zeitung zu lesen, das Mobiltelefon zu zücken oder mit den Kollegen in der Pause über die Arbeit zu sprechen, hat Ebner einen anderen Vorschlag. «Riechen Sie am Kaffee. Fühlen Sie die heisse Tasse in Ihrer Hand, dann an den Lippen. Wie schmeckt der erste Schluck auf der Zunge? Wie fühlt sich der heisse Kaffee im Hals an?» Plötzlich werde der Kaffee von einem normalen Getränk zu etwas Besonderem.

Bodyscan
«Die Achtsamkeitslehre hat ihren Ursprung im Buddhismus. Dort ist Meditation ein wichtiges Instrument, um seinen Körper bewusst wahrzunehmen», erklärt Ebner. Meditations-Methoden gebe es viele. Seit kurzem leiten auch Applikationen auf dem Handy an jedem Ort und zu jeder Zeit durch einen Meditation. Ebner allerdings empfiehlt den Bodyscan. «Man legt sich auf eine weiche Unterlage – oder bleibt sitzen – und scannt seinen Körper. Von der Fussspitze bis zum Scheitel. Wie liege ich auf dem Boden auf? Wie weit reichen meine Zehen? Wo spüre ich meine Nase?» Wann immer die Gedanken abzudriften drohen, müsse man sie zurück zum Körper holen und sich damit komplett dem Hier und Jetzt widmen. «Das kann erstmal eine Unruhe auslösen. Aber je mehr Übung man hat, umso gelassener wird man dadurch.»

Duschen
Eine Art Meditation sei auch beim Duschen möglich. «Spüren Sie mal ganz bewusst, wie das Wasser auf die Haut trifft. Wie sich die Seife anfühlt. Oder denken Sie beim Rasieren oder Schminken vor dem Spiegel mal noch nicht an die nächste Sitzung. Bleiben Sie im Moment.»

Zähneputzen
Sogar das tägliche Zähneputzen biete eine gute Gelegenheit, Achtsamkeit zu üben. «Wenn man jeden Tag eine einzelne Sache bewusst macht, verändern sich die Dinge bereits», so Ebner. Er rät: «Hängen sie einen Zettel an den Badezimmerspiegel, der sie daran erinnert, ihre Gedanken während dem Zähneputzen nicht schweifen zu lassen, sondern für diese kurze Zeit ganz im Moment zu sein. Die Zahnpasta zu schmecken, die Bürste zu fühlen…»

Unterwegs
Auch die Zeit unterwegs kann genutzt werden. Im Bus, Tram, Zug, Auto oder Fahrrad darauf achten, wie die Umgebung riecht. Was man sieht und hört. Wie der Fahrtwind sich im Gesicht anfühlt. «Oder beim Sitzen im ÖV ganz bewusst ein- und ausatmen», so Ebner.

Treppe statt Lift
Statt den Lift, die Treppe zu nehmen, ist nicht nur gesund für den Körper, sondern auch für den Geist. «Beim Treppensteigen jede Stufe bewusst zu nehmen, schafft einen Moment, in dem man ganz in seinem Körper ist», erklärt Ebner.

Gruppendruck hilft
Achtsamkeit sei wie ein Muskel, sagt der Spezialist. Und Muskeltraining erfordert erstmal eines: den inneren Schweinehund überwinden. «Gruppendruck und der Austausch mit Anderen hilft, lange genug dabei zu bleiben, um eine nachhaltige Wirkung zu spüren», so Ebner. Dazu kann unter anderem der Besuch eines alltagsbegleitenden, achtwöchigen MBSR-Kurs beitragen.


Achtsamkeits-Tipps für den Alltag?

«Achtsamkeit ist keine Hexerei, das kann man auch ganz einfach für sich im Alltag üben», sagt Stephan Ebner. Er ist stellvertretender Direktor des Claraspitals, studierter Ökonom und hat eine Ausbildung als Lehrer in MBSR und essentieller Psychotherapie. «Es geht hauptsächlich darum, den Autopiloten für einen Augenblick auszuschalten und wieder ganz neu zu Denken und zu Fühlen.»

Um die eingefahrenen Denk- und Verhaltensmuster zu durchbrechen, so Ebner, brauche  es in erster Linie Übung. «Achtsamkeit ist wie ein Muskel – man muss sie trainieren, damit sie kraftvoll wird», erklärt Ebner. Das sei erst etwas anstrengend und ungewohnt – irgendwann aber äusserst befriedigend.


Die Autorin dieses Artikels, Nadine A. Brügger, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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