Rücken ohne Schmerzen

Von Danica Gröhlich, 18. Mai 2022

Chronisches Leiden: Rückenschmerzen sind längst eine Volkskrankheit. (iStock)

Ein Schweizer Biochemiker erforscht die Volkskrankheit Rückenschmerzen. Was seine Motivation ist, wo der Schmerz meist steckt und wie Leidgeplagte Linderung erfahren könnten.

«Als ich mit 25 Jahren in diesem Themengebiet anfing zu forschen, hatte ich noch keine Rückenschmerzen. Auch jetzt, 15 Jahre später, sind es zum Glück oft nur kurze, akute Episoden.» Im Gegensatz zu vielen Menschen weiss Biochemiker und Forscher Stefan Dudli aber, woher die Schmerzen kommen: Meist durch zu langes und zu verkrampftes Sitzen vor dem Computer und zu wenig Rückentraining. «Mit Bewegung sowie Sport versuche ich, dem entgegenzuwirken.» Anderen möchte er helfen, ihre Schmerzen zu lindern. Hierfür forscht Stefan Dudli an den Abteilungen für Rheumatologie der Universitätsklinik Balgrist und am Universitätsspital Zürich an einer neuen Stammzell-Therapie.

Herr Dr. Dudli, weshalb ist das Volksleiden Rückenschmerzen so spannend für Sie?
Mich interessiert die Komplexität von Rückenschmerzen. Eigentlich weiss man erstaunlich wenig über die Biologie von Rückenschmerzen. Denn Rückenschmerzen sind nicht gleich Rückenschmerzen. Jede Patientin und jeder Patient hat ein eigenes Leidensmuster. Es gibt bis heute keinen Standard, wie man Rückenschmerzen diagnostiziert. Daher können Ärztinnen und Ärzte oft die Grundursache nicht finden. Grosse Forschungsunterfangen wie das amerikanische «Back Pain Consortium», welches vom US-Staat mit weit über 100 Millionen Dollar unterstütz wird, haben das Ziel, ein integriertes Modell von Rückenschmerzen zu entwickeln. So könnten Rückenschmerzen in Zukunft gezielter behandelt werden. Und wir dürfen Teil dieses grossen Forschungsprojektes sein.

Und welche Rückenschmerzen haben Sie im Fokus?
Wir erforschen insbesondere die chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen, die also länger als 12 Wochen anhalten und ohne erkennbare Ursache. Hier untersuchen wir ein Phänomen, das bei rund 40 Prozent der Betroffenen auftritt: Das sind Veränderungen im Knochenmark des Wirbelkörpers. Diese Veränderungen treten angrenzend zu degenerierten Bandscheiben auf und sind stark mit Kreuzschmerzen verknüpft. Diese Veränderungen sieht man nur auf MRI-Bildern. Sie heissen Modic Changes, benannt nach dem US-Radiologen Michael Modic, der diese 1988 beschrieben hatte. Modic Changes treten oft mit weiteren schmerzverursachenden Veränderungen im Rücken auf. Daher sind Modic Changes nicht leicht als Ursache zu bestimmen.

Dr. sc. nat. Stefan Dudli,
Forschungsleiter, Rheumatologie,
Universitätsklinik Balgrist und
Universitätsspital Zürich (zVg.)

Was sind denn mögliche Auslöser?
Weshalb Modic Changes entstehen, ist noch nicht gänzlich geklärt. Unsere Forschung und die von Kolleginnen und Kollegen zeigt jedoch, dass es mindestens zwei mögliche Ursachen gibt. Erstens eine Autoimmunreaktion des Knochenmarkes gegen die Bandscheibe. Das Knochenmark hat viele Immunzellen. Diese sind normalerweise nicht mit der Bandscheibe in Kontakt, können sie also nicht als körpereigen erkennen. Wenn nun durch strukturelle Defekte die Bandscheibe mit den Immunzellen im Knochenmark in Kontakt tritt, dann sagen die Immunzellen: «Das kenne ich nicht! Das muss etwas Körperfremdes sein.» Sie lösen eine Immunreaktion aus, um diesen «Eindringling» zu bekämpfen, der in Tat und Wahrheit die Bandscheibe ist. Dies verursacht eine Entzündung. Weil die Ursache der Entzündung, die Bandscheibe, nicht beseitigt werden kann, wird die Entzündung chronisch. Die zweite Ursache ist kontrovers diskutiert, mittlerweile jedoch gut belegt. Hier geht man von einem klinisch nicht messbaren Infekt der Bandscheibe mit bestimmten Bakterien aus. Diese gelangen auf noch nicht restlos geklärte Weise in die Bandscheibe. Weil die Bandscheibe nicht vom Immunsystem überwacht wird, können sich diese Bakterien dort einnisten und langsam vermehren. Dies führt zu einer chronischen Entzündung der Bandscheibe. Diese Entzündungsfaktoren sowie bakterielle Produkte können ins angrenzende Knochenmark ausfliessen und dort ebenfalls eine Entzündung auslösen.

Wie sehen derzeit die Therapie-Möglichkeiten aus?
Zurzeit gibt es keine spezifische Therapie für Modic Changes. Sind die Möglichkeiten mit Medikamenten, Physiotherapien oder Massagen ausgeschöpft, wird oft versucht, die Entzündung mittels Kortison-Spritzen zu bremsen. Das funktioniert kurzfristig gut. Jedoch sind nach wenigen Tagen oder Wochen die Schmerzen zurück. Eine Schmerz-, aber keine Ursachen-Bekämpfung. Hier setzt unsere Forschung an. Um die beiden Ursachen zu differenzieren, suchen wir nach Blut- oder MRI-Biomarkern. Während ein bakterieller Infekt mit Antibiotika therapiert wird, gibt es keine Behandlung für Modic Changes, ausgelöst durch eine Immunreaktion. Für diese Form entwickeln wir nun eine Stammzell-Therapie.

Wo setzen diese Stammzellen an?
Die Medizin nutzt bereits sogenannte mesenchymale Stammzellen, um verschiedene Gewebearten zu produzieren, etwa Knorpelgewebe zur Regeneration bei Arthrose. Weniger bekannt ist, dass diese Stammzellen auch antientzündlich wirken können. Sie produzieren viele Faktoren in grossen Mengen, welche eine entzündliche Reaktion von Immunzellen unterdrücken können. Diese Fähigkeit machen wir uns zu Nutzen. Anstatt einzelne immunhemmende Faktoren zu injizieren, bringen wir gleich die ganze «Fabrik» zum Ort. Somit gehen wir von einer breiteren und langanhaltenderen Wirkung aus.

Wann könnten Sie so Schmerzgeplagten helfen?
Nach vielversprechenden Laborresultaten rechnen wir in drei bis vier Jahren mit der ersten klinischen Studie. Chronische Rückenschmerzen werden wir wohl nie ganz zum Verschwinden bringen. Wir hoffen jedoch, das Leben von Menschen mit Modic Changes um einiges lebenswerter machen zu können.


Volkskrankheit Rückenschmerzen

  • 50% der Schweizer Bevölkerung hatten 2020 mehrmals pro Woche oder Monat Rückenschmerzen.
  • 8 von 10 Menschen leiden in ihrem Leben an Episoden von Rückenschmerzen.
  • Davon haben die meisten (90%) nichtspezifische Rückenschmerzen, ohne genau Ursache. Ausserdem sind Rückenschmerzen der häufigste Grund, weshalb jemand nicht zur Arbeit gehen kann.
  • Am häufigsten sind Rückenschmerzen im Alter zwischen 35 und 55 Jahren. Also genau im erwerbsfähigen Alter. Die medizinische Betreuung, aber auch die Arbeitsausfälle verursachen daher immense Kosten. Die Schweiz gibt jährlich etwa 1 bis 2% des Bruttoinlandproduktes für die medizinische Behandlung von Rückenschmerzen und rückenschmerzenbedingte Arbeitsausfälle aus.
  • In der Altersgruppe 80+ kommt es nochmals zu einer starken Zunahme von Rückenschmerzen.
  • Dies hängt oft mit der Degeneration der Bandscheibe zusammen.

(Quelle: Rückenreport Schweiz 2020, Rheumaliga Schweiz)


Einteilung von Rückenschmerzen

  • Ort des Schmerzes: Nacken, mittlerer Rücken, unterer Rücken/Steissbein. Ausserdem können sie in Schultern und Beine ausstrahlen.
  • Dauer: akut (0 – 6 Wochen), subakut (6 – 12 Wochen), chronisch (12 Wochen und länger)
  • Ursache: spezifische = erkennbare Ursache, nichtspezifische = keine erkennbare Ursache (ca. 90% aller Fälle)

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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