Das Herz lässt niemanden kalt 

Von Danica Gröhlich, 9. Februar 2022

Wenn das Herz nicht mehr richtig mitmacht, steigen die Ängste. (iStock)

Der Motor des Lebens: Wenn das Herz nicht mehr richtig schlägt oder gar aussetzt, macht das Angst. Wie die Kardiopsychologie Menschen nach einem Infarkt oder rund um eine Operation begleitet.

«Freud und Leid liegen bei uns nur einen Herzschlag auseinander», weiss Sven Schmutz, Leiter der Kardiopsychologie am Inselspital Bern.

Herr Dr. Schmutz, wie erleben Menschen mit Herznotfällen die Rettungsfahrt unter Sirenengeheul?
Ein medizinischer Notfall kann in der Folge traumatische Reaktionen auslösen. Dies immer als Zusammenspiel zwischen der subjektiv wahrgenommenen Bedrohung und den eigenen Ressourcen zur Bewältigung. Die Fahrt ist ein Teil davon, aber in der Regel nicht der alleinige Auslöser. Oft kann die Rettungsfahrt sogar beruhigen. Man fühlt sich in guten Händen, Hilfe ist da. Kann die äusserliche Ruhe vor einer Herzoperation täuschen? Menschen können auf unterschiedlichste Art und Weise auf solche Situationen reagieren. Das Redebedürfnis kann zunehmen, sodass Betroffene vor einer Herzoperation in einen nervösen Modus fallen. Andere wiederum reagieren eher mit Rückzug und werden still – ein weniger deutliches Signal als Weinen oder Zittern. Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir bei  äusserlich ruhigen Personen nachfragen, um keinesfalls etwas zu verpassen. Die grösste Angst ist sicherlich, dass es zu Komplikationen kommen könnte. Dabei steht die Angst zu sterben meist im Zentrum. Die Chirurginnen und Chirurgen sind sehr versiert und machen viele Eingriffe. So ist eine Bypass-Operation, bei der das Blut an einer Engstelle der Herzkranzgefässe vorbeigeführt wird, beinahe Routine. Für die Patienten bleibt es aber ein Eingriff am Herzen, dem Organ, das uns am Leben hält. Wir helfen erst, wenn es beim Vorgespräch mit der Chirurgie oder nach der Operation Auffälligkeiten gibt wie starke Niedergeschlagenheit oder Ängste.

Dr. phil. Sven Schmutz, Leiter Kardiopsychologie, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, Inselspital Bern (Insel Gruppe)

Wie wichtig ist die Begleitung auch nach einer überstanden Operation?
Im Falle von psychischen Auffälligkeiten ist die Begleitung sehr wichtig. Wir unterscheiden zwischen der stationären und der ambulanten Versorgung. Bei der stationären Versorgung klären wir am Spitalbett über psychische Belastungsreaktionen auf und vermitteln erste Strategien zur Bewältigung der Situation, beispielsweise Techniken zum Umgang mit Angst. Männer mittleren Alters sind zum Beispiel nach einem Eingriff oft sehr emotional und weinerlich, was sie von sich so nicht kennen. Wir erklären dann genau, welche biologischen Prozesse sich gerade im Gehirn abspielen. Bei der ambulanten Behandlung kommen Patientinnen und Patienten üblicherweise zwischen zehn und 30 Mal zu uns in die Sprechstunde. Dabei werden psychische Erkrankungen behandelt, die zusammen mit der Herzerkrankung auftreten. Dies ist etwa nötig, wenn eine Person im Rahmen einer chronischen Herzinsuffizienz an einer Depression erkrankt. Diese Begleitung dauert wenige Wochen bis zu mehreren Jahren, je nach Erkrankungsgrad. Ziel ist, dass Betroffene den Alltag mit der Herz-Kreislauf-Erkrankung besser bewältigen können und die psychischen Begleiterkrankungen behandelt werden.

Sind Ängste bis zu einem gewissen Grad sinnvoll?
Ja, denn die Angst signalisiert uns in der Regel eine Gefahr. Ein gesunder Respekt führt dazu, dass sich Patientinnen und Patienten Sorge tragen, ihre Medikamente regelmÄssig einnehmen, sich gesund ernähren und zur Kontrolle gehen. Allerdings gibt es auch übersteuerte Ängste. Wenn beispielsweise jemand nach einem Herzinfarkt Angst hat, in einen Bus zu steigen. Medizinisch gesehen, gibt es keinen Grund dafür. Steigt aber jemand in einen vollen Bus ein, kann es dort eng und heiss sein, er bekommt weniger Luft. Der Körper reagiert, fährt hoch, der Blutdruck sowie der Herzschlag nehmen zu. Eigentlich eine natürliche Reaktion. Wenn aber jemand bereits einen Herzinfarkt hatte, verunsichern diese körperlichen Reaktionen sehr. Der Gedanke kommt: «Ist es wieder ein Infarkt?» und starke Angstsymptome entstehen. Die Folge ist, dass der Bus nicht mehr genutzt wird. In solchen Fällen von übersteuerten Ängsten kann eine kardiopsychologische Behandlung helfen.

Welche Auswirkungen hat die Psyche auf die weitere Genesung?
Grundsätzlich kann es zu einer Wechselwirkung in beide Richtungen kommen. 40 Prozent der Menschen mit Herzgefässerkrankungen haben innerhalb eines Jahres auch eine psychische Erkrankung. Das entspricht dem zwei- bis dreifachen Wert der gesunden Bevölkerung. Gleichzeitig wirken sich psychische Erkrankungen auch negativ auf die Prognose und den Genesungsprozess aus. Psychische Erkrankungen können biologische Mechanismen im Körper in Gang setzen. Dazu gehören beispielsweise eine erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems und eine erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen. Diese erhöhte Aktivität im Körper kann das Herz-Kreislauf-System belasten oder besser gesagt überlasten. Weiter zeigt eine Person mit einer psychischen Erkrankung mit höherer Wahrscheinlichkeit ungesunde Verhaltensweisen. Etwa, dass sie mehr raucht oder sich weniger bewegt. Grosse Studien zeigen, dass Patientinnen und Patienten mit einer Depression nach einem Herzinfarkt ein beinahe doppelt so hohes Sterberisiko haben und ein anderthalbfaches Risiko, erneut einen Infarkt zu erleiden. Forschungen aus Schweden zeigen, dass diejenigen die besten Prognosen haben, die ihre psychische Belastung innerhalb des ersten Jahres in den Griff bekommen.

Wie wichtig ist dabei die Familie?
Die Familie ist eine sehr wichtige Stütze. Besonders in der Pandemie wurde dies aufgrund des Besuchsverbotes deutlich. Ist jemand alleine, steigt die Sterbewahrscheinlichkeit. Rund um einen Eingriff kann die Familie aber auch aufgrund vieler Anrufe und Besuche ein Stressfaktor sein. Man muss dann sagen können: «Das ist mir jetzt zu viel!» Die Familie sollte deshalb die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten immer Erfragen. Im Herz-Zentrum geht es oft auch um Leben und Tod.

Wie gehen Sie damit um?
In meiner Arbeit erlebe ich sehr viel Positives. Freud und Leid sind oft sehr nahe beieinander. Es ist schön, dass wir Menschen in kritischen Situationen unterstützen dürfen. Wir begleiten auch Menschen in ihrem Sterbeprozess und sind für die Angehörigen da. Wenn der Bruder, der nach Amerika ausgewandert ist, es doch noch rechtzeitig schafft, Abschied zu nehmen. Solche Erlebnisse bleiben mir in Erinnerung. Und ja, das geht mir manchmal nahe. Besonders, wenn Kinder sterben, was zum Glück selten ist. Deshalb haben wir regelmässig Besprechungen untereinander und mit externen Fachpersonen. Damit wir unsere Gedanken teilen können. Obwohl wir tagtäglich damit zu tun haben, so lässt das Herz auch uns nicht kalt.


Kardiopsychologie im Inselspital

In der Universitätsklinik für Kardiologie am Inselspital Bern wurden mehr als 30‘000 Menschen mit Herzerkrankungen behandelt, wie Herzinfarkte, angeborene Herzfehler oder Herzinsuffizienzen, wenn die Pumpleistung des Herzens abnimmt und eventuell eine Herztransplantation nötig wird. Das Angebot der Kardiopsychologie am Inselspital existiert in der heutigen Form seit Sommer 2018. Fünf ausgebildete Fach-Psychologinnen und -Psychologen teilen sich 320 Stellenprozente. Da die Nachfrage, auch seit der Pandemie, stetig steigt, soll das Angebot nach Möglichkeit erweitert werden.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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