«Es wird noch lange dauern, bis wir gleichgestellt sind»

Von Christian Franzoso, 8. September 2021

Laut Schätzungen leben in der Schweiz rund 10’000 vollständig gehörlose Menschen. Bis zu 600’000 Personen
sind leicht bis hochgradig schwerhörig. (iStock)

Gehörlose Menschen haben einen schweren Stand. Sie werden oft ausgegrenzt und sind Vorurteilen ausgesetzt. Dr. Tatjana Binggeli kämpft dagegen an.

Am 23. September ist der Internationale Tag der Gebärdensprache. Dr. Tatjana Binggeli ist die einzige Gehörlose im Land mit einem Doktortitel und zudem Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes SGBFSS. Die medizinische Wissenschaftlerin, die seit Geburt an gehörlos ist, über den steinigen Weg, Nicht-Hörende in der Schweizer Gesellschaft gleichzustellen.

Frau Dr. Tatjana Binggeli, wie haben Sie als Gehörlose die Pandemie erlebt?
Lippenlesen war wegen der Maskenpflicht natürlich nicht möglich, aber ironischerweise ermöglichte mir die Pandemie, die Gebärdensprache der Bevölkerung sicht- und erfahrbarer zu machen. Dafür hat der Gehörlosenbund viele Jahre gekämpft. Dank unserer guten Zusammenarbeit mit dem Bund und der Bundeskanzlei gelang es uns, im Fernsehen und Online Informationen zur Pandemie in Gebärdensprache wiederzugeben. Dadurch konnte die Bevölkerung unsere Muttersprache erleben. Die Maskenpflicht führte also zu einer Sensibilisierung unserer Anliegen.

Sie studierten Zahnmedizin, Humanmedizin, Medizinischen Parasitologie und Infektionsbiologie und machten Ihr Doktorat in wissenschaftlicher Medizin. Seit 20 Jahren arbeiteten Sie in verschiedenen Spitälern in der Deutschschweiz. Wie schwierig war es, Ihre Ziele zu erreichen?
Schon von klein auf musste ich mein Recht auf Bildung erkämpfen. Das gelang mir mit grossem persönlichem Einsatz und Aufwand, und mit moralischer Unterstützung meiner Eltern. Mit 17 Jahren besuchte ich erstmals ein Gymnasium mit Hörenden, danach machte ich meinen Universitätsabschluss und promovierte. Um als gleichwertig und auf gleicher Augenhöhe akzeptiert zu werden, musste ich 20-mal mehr leisten und arbeiten als Hörende.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Mir wurden oft Steine in den Weg gelegt. Wegen Vorurteilen gegenüber Gehörlosen wurde ich sogar von einem Gymnasium geworfen, weil eine Person mit «Handicap», so die Schulleitung, nicht eine normale Schule besuchen könne. Mit eisernem Willen konnte ich meinen Abschluss in einem anderen Gymnasium absolvieren und wurde sogar ausgezeichnet. Mein schulischer, akademischer und beruflicher Werdegang war auch kein Spaziergang. Ich habe viel gelitten, aber rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Steine gesprengt habe. (lacht)

Der Zugang zu einer höheren Ausbildung ist für Gehörlose in der Schweiz nicht barrierefrei. Wie kann der Gehörlosenbund dies ändern?
Mit der Gebärdensprach- und Gehörlosengemeinschaft arbeiten wir daran, diese Barrieren endlich ganz abzubauen. Deshalb müssen wir Netzwerke verstärkter aufbauen, die überregionale Zusammenarbeit fördern und unsere Forderungen umsetzen, basierend auf dem «Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» und der «Agenda 2030» der Vereinten Nationen. Es ist jedoch noch ein langer Weg, bis wir in der Gesellschaft inkludiert sein werden.

Dr. Tatjana Binggeli, Präsidentin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS (zVg.)

Welche konkreten Forderungen sind das?
Wir kämpfen für die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprachen (DSGS / LSF /LIS). Und wir setzen uns für die flächendeckende bilinguale Bildung ein, mit der jedes gehörlose Kind gleichzeitig sowohl die gesprochene Sprache als auch die Gebärdensprache erlernen kann. Es ist wichtig, dass gehörlose Menschen den Zugang zu Aus- und Weiterbildungen in Form eines Nachteilsausgleiches erhalten, indem sie die Kosten für die Gebärdensprachdolmetscher vergütet bekommen. Denn ohne Gebärdensprache ist der volle Zugang zu den Inhalten nicht gegeben.

Der Gehörlosenbund setzt sich auch dafür ein, dass gehörlose Menschen besseren Zugang zu Arbeitsstellen erhalten. Wie schwierig ist das?
Sehr schwierig, da viele Hörende keinerlei Wissen über die Anliegen von Gehörlosen haben. Wir sind ständig in Kontakt mit der Bundesverwaltung und bringen dort unsere Forderungen direkt an. Zudem reichen wir auch politische Vorstösse ein und wir geben wissenschaftliche Studien in Auftrag, die den Fokus haben, die Diskriminierungen von Gehörlosen aufzuzeigen.

Sie setzen sich auch im Gesundheitswesen für Gleichberechtigung ein.
Ja, wir fordern, dass die Kosten der Gebärdensprachdolmetscher in den Grundleistungen der obligatorischen Krankenversicherung von den Kostenträgern übernommen werden – denn auch hier gilt, ohne Gebärdensprache können Diagnosen nicht richtig gestellt, Therapien nicht erfolgreich umgesetzt und das Einverständnis der Patienten nicht sichergestellt werden.

Wie wirkt sich das auf die Gesundheit von Gehörlosen aus?
Es ist erwiesen, dass Gehörlose im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung – trotz vergleichbarer Intelligenz – häufig einen niedrigeren sozioökonomischen Status und eine weniger gute Bildung aufgrund der Barrieren im Bildungssystem haben. Zudem funktioniert die Kommunikation zwischen ihnen und den Ärztinnen und Ärzten oder dem Pflegepersonal nicht immer einwandfrei. Deshalb sind Gehörlose oft mangelhaft informiert, werden falsch behandelt und haben dadurch einen schlechteren Gesundheitszustand als Hörende.

Mangelnde Kommunikationsfähigkeiten zwischen Hörenden und NichtHörenden kann also lebensgefährdend sein?
Ja. Abgesehen davon, ist es auch für Hörende nicht immer einfach, den medizinischen Ausführungen zu folgen. Die medizinischen Fachpersonen in der Schweiz wissen sehr wenig über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache als eigenständige Sprache. Sie kennen weder die Kultur der Gehörlosen und die spezifischen Bedürfnisse noch die gesetzlichen Voraussetzungen.

Wieso braucht es einen Tag der Gebärdensprache?
Mit diesem Tag wird der Bevölkerung in Erinnerung gerufen, dass die Gebärdensprache existiert und dass deren Anerkennung noch immer keine Selbstverständlichkeit ist. Doch es geht auch um die Ankerkennung von Gehörlosen generell und um deren Kultur. Denn die Gehörlosengemeinschaft sieht sich in der Gesellschaft als kulturelle und sprachliche Minderheit, die auf die Umsetzung der Menschenrechte angewiesen ist. Das Recht auf eigene Sprache und Schutz der Kultur der Gehörlosen ist ein Menschenrecht.

Welche Aktionen plant Ihr Verband rund um diesen Tag?
In diesem Jahr feiern wir nicht nur den Tag der Gebärdensprache, sondern auch das 75-jährige Bestehen des Gehörlosenbundes. Aus diesem Anlass haben wir das Buch «Zeichen setzen» über unsere Geschichte herausgegeben. In Interviews mit herausragenden Personen aus der Gehörlosengemeinschaft machen wir auf die geschichtlichen Meilensteine in der Gehörlosenbewegung aufmerksam.

Wie sollen Hörende NichtHörenden begegnen?
Es braucht ein gegenseitiges Verstehen im kulturellen, sprachlichen und visuellen Bereich. Es gibt leider immer sehr viele Vorurteile und Stigmatisierungen gegenüber Gehörlosen.


Der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS ist ein nationaler Dachverband. Seit 1946 setzt er sich für die Gleichstellung von Menschen mit einer Hörbehinderung ein. Mehr Informationen und Aktionen zum Tag der Gebärdensprache unter:
www.sgb-fss.ch


Christian Franzoso ist Redaktor bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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