«Das ist der erste Schritt zur Veränderung»

Von Danica Gröhlich, 25. November 2020

Stefan Poth: «Durch den Unfall habe ich gemerkt, dass man auch anders durchs Leben gehen kann.» (zVg)

Unsere Zeit ist geprägt von Unsicherheit. Ein Gespräch mit Lebens-Coach Stefan Poth über Entschleunigung, Mut und Resilienz – die Fähigkeit, solche Krisen zu bewältigen.

Nach einem schweren Verkehrsunfall, bei dem er lebensgefährlich verletzt wurde und ein Bein verlor, kämpfte sich Stefan Poth zurück. Diese Erfahrung schärfte seinen Blick aufs Leben. Seither unterstützt der 55-Jährige aus Zug Menschen dabei, aus ihrem Hamsterrad auszusteigen und ihre Biografie zu verändern. Seit über 20 Jahren ist er nun als selbständiger Unternehmer, Dozent und Coach tätig.

Herr Poth, Sie bezeichnen sich selbst als Entschleuniger: Was heisst das konkret?
Wir leben in einer Welt, in der höher, weiter, schneller das Mass aller Dinge ist. Insbesondere im Beruf führt der enorme Zeit- und Leistungsdruck bei vielen Menschen zu Abnützungserscheinungen und Erschöpfung. Wir füllen jede freie Minute mit Social Media und gönnen uns keinerlei unproduktive Pausen. Dabei weiss man aus der Neurobiologie, dass gerade Tagträumen für die Kreativität und Erholung des Körpers enorm wichtig ist. Oder in Analogie zu einem Formel-1-Rennen: Wer ständig nur Vollgas gibt, wird entweder aus der Kurve fliegen oder mit leerem Tank auf der Strecke bleiben. Sinnvolle Boxenstopps machen den Sieger aus. Mit Entschleunigung meine ich diese Boxenstopps.

Welche Bedeutung hatte Ihr Unfall für Ihren persönlichen Weg?
Der Unfall hat mir aufgezeigt, wie schnell das Leben vorbei sein kann oder sich von einer Sekunde auf die andere ändert. Als ich an diesem Tag auf mein Motorrad stieg, hatte ich nicht einmal den Computer im Büro ausgeschaltet. Der Autofahrer, der mich übersah und in die Seite fuhr, war auch nur kurz auf dem Weg zum Ökihof. Als ich auf der Unfallstelle fast verblutete, weil ich mein linkes Bein verloren hatte, war mir noch nicht bewusst, welche Auswirkungen es auf mein weiteres Leben haben wird. Erst als ich akzeptierte, dass ich meine restliche Zeit als «Behinderter» verbringen werde, musste ich eine Entscheidung fällen: Bleibe ich Opfer und suhle mich in meinem Elend oder werde ich das Beste aus der Situation machen? Diese Akzeptanz war der Schlüssel zum Erfolg.

Stefan Poth steht dank Prothese fest im Leben. (zVg)

Dazu braucht es aber Mut…
Sicherlich. Während meiner persönlichen Entschleunigung im Spital und in der Reha habe ich jedoch festgestellt, wie das Leben an den meisten Menschen vorbeizieht. Sie schieben viele Dinge, die sie gerne machen würden, auf später: nach der Ausbildung, nach diesem Projekt oder nach der Pensionierung – irgendwann werde ich meinen Traum verwirklichen. «Irgendwann» ist ein anderes Wort für «nie». Die Weltreise nach der Pensionierung ist beispielsweise nicht mehr möglich, weil der Herzinfarkt oder die Krebsdiagnose im Weg steht. Ich realisiere nun die Dinge nach meinen Möglichkeiten, weil ich weiss, dass es sonst zu spät sein kann. Ich lebe bewusster, da mir die Endlichkeit vor Augen geführt wurde.

Weshalb suchen gerade jetzt etliche Menschen nach dem Sinn des Lebens?
Wir haben gemerkt, dass Geld alleine nicht glücklich macht. Es lenkt nur ab. Burnouts zum Beispiel entstehen unter anderem dann, wenn man sich im Hamsterrad dreht und denkt, es sei eine Karriereleiter. Die Gratwanderung zwischen finanziellen Verpflichtungen und Selbstverwirklichung ist heikel. Gerade meine Generation der Babyboomer, die darauf konditioniert wurde, Karriere zu machen, stellt nun fest, dass Leistung noch keine Garantie für Sicherheit und Lebensfreude ist. Wer mit Mitte 50 den Job verliert, sieht sich plötzlich existenziellen Fragen gegenübergestellt. Unsere Gesellschaft macht gerade einen gewaltigen Wandel durch, der durch Corona vernebelt, aber auch beschleunigt wird. Wir werden uns von materiellen Wertvorstellungen trennen und andere Formen der Befriedigung finden müssen.

Könnte uns dabei die Natur helfen? Oder warum machen Sie Ihre Beratungen meist im Freien?
Unsere Gesellschaft hat sich komplett von der Natur entfremdet. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass wir Schweizer das Gefühl haben, wir hätten viel Natur. Haben wir aber nicht. Das, was wir als Natur bezeichnen, ist Landwirtschaft. Unsere Wälder sind mehrheitlich Fichtenplantagen, die zur Forstwirtschaft angepflanzt wurden. Alles ist bewirtschaftet. Ein Teil meiner Ausbildung zum Natur-Coach habe ich in Afrika gemacht. Ich war auch in den letzten Urwäldern Europas in den Karpaten. Das ist Natur. Wenn ich als Mensch nicht mehr zuoberst in der Nahrungskette stehe. Dann lehrt sie mich Demut, Achtsamkeit und Respekt. Für uns bedeutet die Natur in erster Linie das Ausleben unserer Spassgesellschaft. Wir sollten aus meiner Sicht wieder lernen, in den Wald zu gehen – ohne Kopfhörer und Jogging-Leistungsdruck. Einfach nur sein: riechen, hören, schauen, fühlen. Die meisten unserer Coaching-Prozesse machen wir im Wald am Feuer. Das ist spürbar ein ganz anderes Setting als in einem Seminarhotel vor dem Flipchart. Einfach befreiter.

«Akzeptanz war der Schlüssel zum Erfolg.»

Wenn ein Ende nicht absehbar ist: Wie stehen wir Lebenssituationen wie die Corona-Krise besser durch?
Wenn ich etwas Positives aus der aktuellen Corona-Situation nehmen kann, dann ist es die gesellschaftliche Entschleunigung. Das Bewusstsein, dass nicht immer alles planbar ist und wir als Menschen nicht alles im Griff haben. Die Verunsicherung und die Angst vieler zeigen auf, wie verwundbar und schwach wir sind. Auch der Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft wird nun sichtbar. Die Angst davor ist exemplarisch für die Angst vor dem Leben. Schlussendlich werden wir alle sterben. Es ist nur eine Frage der Zeit und hat nichts mit Corona zu tun. Was wir mit dieser Zeit machen, liegt in unserer Macht und in unseren Entscheidungen. Ich kann die mir verbleibende Zeit in Angst und Sorge verbringen oder ich kann das Leben im Rahmen meiner Möglichkeiten geniessen und auskosten. Ich alleine entscheide dies und niemand anderes. Kein Corona, keine Chefin, kein Chef, nicht mein Partner oder meine Kinder. Nur ich alleine. Alles andere sind faule Ausreden, die mich vor meiner eigenen Feigheit und Unentschlossenheit schützen. Daher empfehle ich allen, die nun im Homeoffice oder sonst mehr Zeit mit sich selbst verbringen, sich Gedanken zu machen: Bin ich zufrieden oder muss ich etwas ändern?

Allerdings wissen viele gar nicht, was sie als erstes ändern müssten.
Der erste Schritt besteht darin, dass Betroffene feststellen und entscheiden, dass sich etwas ändern muss. Die Menschen sind ja sehr leidensfähig und jammern lieber herum, als sich aus der Komfortzone zu bewegen. Meistens braucht es die «Katastrophe»: Kündigung, Krankheit, Scheidung oder einen Todesfall in der Familie. Das ist nicht wertend gemeint. Bei mir war es ja auch so. Erst durch den Unfall habe ich gemerkt, dass man auch anders durchs Leben gehen kann. Achtsamer, aber auch lebens- und genussfroher. Im Grunde ist es ganz einfach: Entweder ich ändere die Situation, oder ich ändere meine Einstellung zur Situation.

Weitere Informationen zu Stefan Poth und seiner Tätigkeit auf:
www.funkenfeuer.ch

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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