«Jetzt sitzt die Dicke neben mir…»

Von Christian Franzoso, 11. November 2020

Dank dem Magenbypass kann Beatrice Bolz wieder ohne Anstrengung mit Oscar Gassi gehen. (Noé Müller)

Zeitlebens leidet Beatrice Bolz unter chronischem Übergewicht. Diäten bringen nichts. Erst mit 70 Jahren erlöst sie ein Magenbypass von ihrem Leiden.

Sie schnipselt, schnetzelt und rührt. Jeden Morgen bereitet sich Beatrice Bolz ein frisches Müesli zu – mit Vollkorn-Haferflocken, gedörrten Früchten, frischen Beeren und einem zuckerfreien Joghurt. «Das ist der perfekte Start in den Tag», sagt die 73-Jährige mit leuchtenden Augen. «Ich koche täglich frisch. Am liebsten Gemüse, aber auch Fleisch oder Fisch.» Zudem fügt sie noch ein Eiweisspräparat hinzu, denn nach einem sogenannten bariatrischen Eingriff ist eine genügende Proteinzufuhr sehr wichtig.

Ich habe nicht wahllos gefuttert und alles in mich hineingestopft.

Viele Vorurteile

Vor gut drei Jahren beschloss die 1,50 Meter grosse Frau, sich einer Magenbypass-Operation zu unterziehen. Sie wog seinerzeit 96 Kilogramm. Das Übergewicht verursachte Gelenk- und Rückenschmerzen, zudem fühlte sie sich oft energielos: Spaziergänge mit Hund Oscar oder Familienausflüge brauchten enorme Überwindung. Bergauf kam schon gar nicht mehr infrage. «Ich musste keuchen und bekam fast keine Luft mehr», erinnert sich die Grossmutter eines Enkels. Sie sei immer schon ein bisschen rundlich gewesen und trug seit jungen Jahren beständig etwa zehn bis 15 Kilogramm Übergewicht mit sich herum. Viele Diäten brachten nichts, ausser dem bekannten Jo-Jo-Effekt. Und dies, obwohl sie immer auf qualitativ gute Ernährung geachtet und nicht wahllos gefuttert und alles in sich hineingestopft habe, betont Bolz. «Mein Stoffwechsel und meine Gene sind prädisponiert für Übergewicht. Auch mein Vater und meine Mutter waren rundlich und klein.»

Noch immer herrscht in der Bevölkerung das Vorurteil, dass Übergewichtige einfach weniger essen sollten. «Adipositas ist eine chronische Krankheit», erklärt Prof. Ralph Peterli, stv. Chefarzt Viszeralchirurgie, Leiter Forschung und bariatrisches Referenzzentrum, Clarunis Basel. «Viele wissenschaftliche Daten belegen heute, dass bei krankhaftem Übergewicht meist eine starke erbliche Veranlagung vorliegt – wie bei Beatrice Bolz», so Peterli weiter.

Vorwurfsvolle Blicke

Als Beatrice Bolz’ zweiter Mann mit nur 53 Jahren an Alzheimer erkrankt, pflegt sie ihn fünf Jahre lang zu Hause. «Zusammen essen war das einzige Schöne, das wir noch gemeinsam tun konnten. Ich habe uns halt verwöhnt.» Nach diesen fünf Jahren wiegt sie fast 100 Kilo. Als Folgekrankheit des Übergewichts entwickelt Beatrice Bolz Diabetes Typ 2 und muss täglich Insulin spritzen. Da läuten die Alarmglocken bei ihr erst recht, denn die gelernte Fusspflegerin weiss, dass durch Diabetes auch langanhaltende Beschwerden an den Füssen entstehen können. Schon kleine Verletzungen sind problematisch, weil die entstandenen Wunden schlecht heilen und sich oft zu Geschwüren entwickeln. «Das machte mir Angst. Und das war in erster Linie mein Ansporn, Gewicht zu verlieren.»

Prof. Ralph Peterli, stv. Chefarzt Viszeralchirurgie, Leiter Forschung und bariatrisches Referenzzentrum, Clarunis Basel

Doch das Übergewicht ist nicht nur für ihren Körper eine Tortur, auch ihre Psyche leidet sehr darunter, obwohl sie ein selbstsicherer Mensch sei, sagt Bolz. Im Alltag erntet sie starrende, vorwurfsvolle Blicke, die Bände sprechen. Beispielsweise von anderen Passagieren im Flugzeug: «Jetzt sitzt die Dicke neben mir…» Und wenn sie auch noch die Verlängerung für den Sicherheitsgurt verlangen musste, weil dieser zu kurz war, schämte sie sich in Grund und Boden. «Das nagt sehr an deinem Selbstwertgefühl.»

Vor drei Jahren entdeckt Beatrice Bolz zufällig einen Artikel über den Magenbypass. Bei diesem bariatrischen Eingriff wird der oberste Teil des Magens vom Restmagen durchtrennt und mit dem Dünndarm verbunden. «Die Speisen kommen somit schneller in den Dünndarm und dies führt dazu, dass man weniger isst und die Sättigung rascher eintritt», erklärt Prof. Peterli, der schon mehr als 3000 bariatrische Eingriffe durchgeführt hat. «Der Dünndarm produziert die Hormone, die Hunger und Sättigung steuern.» Zudem verbessert sich der Blutzuckerstoffwechsel deutlich.

Als Beatrice Bolz erfährt, dass die Magenbypass-Operation – abgesehen von der Gewichtsabnahme – auch zu einer Verbesserung bis Heilung des Diabetes führt, ist sie sofort Feuer und Flamme. Nach verschiedenen Untersuchungen, unter anderem auch einer psychologischen Abklärung, wird sie von Prof. Peterli im Adipositaszentrum des Basler St. Claraspitals operiert. Ungläubig testet Bolz am Tag nach der Operation ihre Blutzuckerwerte und stellt erstaunt fest, dass sie gut sind. «Von erhöhtem Blutzucker keine Spur. Sensationell!», sagt die 73-Jährige auch heute noch erleichtert. Und auch die überschüssigen Kilos purzeln schnell.

Adipositas ist eine chronische Krankheit.

Hilfe für Körper und Seele

Nach bariatrischer Chirurgie muss man seine Ess- und Trinkgewohnheiten komplett umstellen. «Um eine kontinuierliche Zufuhr an Energie und Nährstoffen zu gewährleisten, müssen Patienten während der ersten Monate sechs kleine und ausgewogen zusammengestellte Mahlzeiten essen, und zwar nach dem Teller-Prinzip», sagt Sophie Stirnimann, Leiterin Ernährungsberatung im St. Claraspital. Mittag- und Nachtessen sollen dabei einen Stärke-, Protein- und Gemüselieferanten enthalten. «Wichtig ist es, bewusst zu essen, lange zu kauen und auf keinen Fall, die Nahrung schnell runterzuschlucken», so Stirnimann weiter. Zudem müssen Essen und Trinken getrennt werden, da wegen des kleinen Magenvolumens schlichtweg zu wenig Platz im Magen für beides vorhanden ist und, um ein sogenanntes Dumping zu vermeiden. Idealerweise trinkt man zuckerlose Getränke.

Seit der Operation hat Beatrice Bolz 30 Kilogramm abgenommen «Wegen Corona habe ich zwar wieder ein paar Kilos mehr auf den Hüften, aber das geht ja den meisten so», sagt sie schmunzelnd. Nicht nur der Diabetes ist geheilt, auch die Gelenkschmerzen sind passé. Nun kann die Hundenärrin wieder beschwerdefrei Ausflüge mit ihrer Familie unternehmen und mit Oscar Gassi gehen. Die Freude am Essen hat Beatrice Bolz durch den Magenbypass nicht verloren. «Ich koche und esse immer noch leidenschaftlich gerne», sagt sie und nimmt einen Löffel von ihrem Müesli. Die Lebensqualität von Beatrice Bolz hat sich durch den Magenbypass-Eingriff im Alter von 70 Jahren massiv verbessert. «Man muss nicht ein Modelgewicht haben, um glücklich zu sein. Aber ein Normalgewicht hilft Körper und Seele sehr», so Bolz. Sie würde es sofort wieder tun.

Christian Franzoso ist Redaktor bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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