Schmerzmittel – eine Epidemie?

Von Nadine A. Brügger, 11. September 2019

Starke Schmerzmittel können helfen – aber auch abhängig machen und chronische Schmerzen gar verstärken. (iStock)

Kaum ein Land konsumiert mehr Opioide, also starke Schmerzmittel, als die Schweiz. Seit den Achzigerjahren ist der Konsum um das 23-fache gestiegen. Das ist ein Problem, sagen Spezialisten.

Wer an Schmerzen leidet – heftigen, beissenden, brennenden, pochenden, lähmenden, verzehrenden, wiederkehrenden oder nimmer endenden Schmerzen – gäbe für Besserung sein letztes Hemd. Das der Milchsaft aus der prallen Kapsel des Schlafmohns eine Lösung bereit hält, wussten Mediziner bereits im 19. Jahrhundert. Spätestens nach dem amerikanischen Bürgerkrieg aber, als die Körper tausender Soldaten sich an die Wirkung medizinischer Opiate gewöhnten und für den gleichen, lindernden Effekt eine immer höhere Dosierung brauchten, wurde klar: Opiate machen süchtig.

Die Forschung lief nun auf Hochtouren. Es musste doch möglich sein, die schmerzlindernde Wirkung der Opiate zu behalten, die süchtig machenden Faktoren dagegen auszuschliessen.

Wundermittel Heroin

Dr. med. Massimo Fumagalli, Gründer und CEO der Sinomedica Gruppe. (z.V.g.)

1890 schien die Bayer AG dem Ziel einen Schritt näher gekommen zu sein. Sie brachte einen Stoff auf den Markt, der den natürlichen Opiaten nachempfunden war, ein sogenanntes Opioid. Sein Name: Heroin.

Die neue Substanz versprach Schmerzbefreiung ohne Suchtrisiko. Die Geschichte zeigt: Heroin hat sein Versprechen nicht gehalten. Die Forschung ging weiter. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen erste ganz synthetische Opioide auf den Markt. Sie sollten dort erfolgreich sein, wo das Heroin versagt hatte. Noch vor 15 Jahren ging man auch in der Schweiz davon aus, dass dieses Ziel tatsächlich erreicht worden sei. Kein Wunder, wuchs der Konsum dieses «Wundermittels» in der Schweiz von 1985 bis 2015 um das 23-fache. Dabei stieg die Wachstumskurve immer steiler in die Höhe: Allein zwischen 2006 und 2013 hat sich die Anzahl der Verschreibungen von Opioide in der Schweiz verdoppelt, wie eine Studie der Universität Basel zeigt.

Die Ernüchterung folgt erst jetzt. «Entgegen der ersten Euphorie zu Beginn des «Opioid-Zeitalters», werden Schmerztherapeutische Behandlungserfolge teils mit starken Nebenwirkungen und Risiken für den Patienten erkauft.» Das schreiben die Schmerzspezialisten Tobias Schneider und Wilhelm Ruppen vom Universitätsspital Basel 2017 in ihrer Übersichtsarbeit «Opiate – Fluch oder Segen?»

Krise in der Schweiz

Für den Tessiner Arzt Massimo Fumagalli steht die Antwort auf diese Frage längst fest: «Wir haben in der Schweiz eine Opioid-Krise.» Eine Befragung unter amerikanischen Patienten habe gezeigt, «dass 70 Prozent der Schmerzpatienten, die über lange Zeit mit Opiaten behandelt wurden, kaum oder gar nicht mehr arbeitsfähig waren», so Fumagalli weiter. In den USA wird die Rede von der Opioid-Krise längst mit tausenden von Todesopfern belegt. Von allen Todesfällen, die in den USA auf Opioide zurückgeführt werden können – dazu gehört also auch der Herointote nach dem goldenen Schuss – sind nur 37 Prozent Menschen, die der Volksmund «Drögeler» nennen würde.

«2013 wurden in der Schweiz doppelt so viele Opioide verschrieben, wie 2006.»
Studie der Universität Basel

«63 Prozent der Todesfälle, die in den USA mit Opioiden zusammenhängen, sind auf legal verschriebene Opioide zurück zu führen», schreiben Ruppen und Schneider. In der Schweiz dagegen ging man bisher weder von einem Drogen-, noch von einem Medikamentenproblem aus. Eine Statistik der Todesfälle, wie in den USA, gibt es hierzulande keine. Bekannt ist nur: Rund 80 Prozent aller Patienten, die über lange Zeit mit pioiden therapiert werden, leiden an Nebenwirkungen. Die häufigsten sind Verstopfung, Übelkeit und Müdigkeit. Dazu kommen unter anderem Juckreiz, eine verlangsamte Atmung, Mundtrockenheit, Schlafstörungen, sexuelle Dysfunktion, Muskelzuckungen, Schwindel, Konzentrationsschwäche und schliesslich Sucht. Doch die meisten Patienten nehmen die Nebenwirkungen in Kauf. Zu stark sind die Schmerzen, denen sie sonst ausgesetzt wären.

Anwendungsbereiche

«Opioide werden vor allem bei Krebspatienten als Schmerztherapie verwendet», erklärt Massimo Fumagalli. Das sei auch richtig so, betont der Arzt. Den Schmerzen von Krebs und Krebstherapie ist kaum ein anderes Mittel gewachsen. Schmerztherapie mit Opioiden findet hier entweder über einen begrenzten Zeitraum hinweg statt – während der Krebstherapie und bis zur Heilung. Oder, ist letztere nicht mehr möglich, am Ende des Lebens. Abhängigkeit und Sucht sind dann kaum Thema. «Immer öfter verschreiben Ärzte die Opioide allerdings auch bei akuten und chronischen Schmerzen», fährt Fumagalli fort. Eine Opioid-Therapie bei chronischen Schmerzen aber bedeutet, dass die abhängig machenden Medikamente über sehr lange Zeit hinweg regelmässig eingenommen werden.

«Die Langzeit-Therapie mit Opioiden kann zur Abhängigkeit führen.»
Massimo Fumagalli, Arzt

«Diverse internationale Studien konnten zeigen, dass eine Schmerztherapie mit Opioiden zwar kurzfristig den Schmerz lindert, den Körper langfristig aber anfälliger darauf macht. So können Opioide erst recht dazu führen, dass der Schmerz chronisch wird», sagt Fumagalli. Die Folge: Mehr und stärkere Opioide, um dem neuen Schmerz Herr zu werden. Ein Teufelskreis beginnt.

Auch wenn medizinische Opioide zu therapeutischen Zwecken, unter ärztlicher Überwachung und Anleitung abgegeben werden, gehören sie noch immer derselben
Substanzen-Familie an, wie Heroin.  Entsprechend wirken sie im Gehirn auch an derselben Stelle, wo sie «Schmerzlinderung und Euphorie» auslösen, wie Ruppen und Schneider schreiben.

Zudem lerne das Gehirn äusserst zügig, «Opioid-Einnahme» mit «gebesserter Stimmung» zu verknüpfen. «Dieser Lerneffekt ist umso grösser, je schneller die Opioide im Hirn anfluten», so die Forscher. Diesen Lerneffekt nennen wir Sucht. Entsprechend «erstaunt es kaum, dass US-Forscher herausfanden, dass die zwei wichtigsten Quellen für süchtigen Opiumkonsum
Ärzte und Strassen-Dealer sind», schreiben Ruppen und Schneider.

Alternative: Akupunktur?

Fumagalli, Gründer und ärztlicher Leiter der Sinomedica Zentren, sieht als mögliche Alternative zu den Opioiden die Akupunktur. «In den USA setzen bereits 87 Prozent der Spitäler, die Krebs behandeln, auf Akupunktur», erklärt der Arzt. «Schmerztherapien und auch Anästhesien sind damit ohne Nebenwirkungen möglich. Aber es braucht mehr Zeit.»

Die Autorin dieses Artikels, Nadine A. Brügger, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.

 

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