Die Angst, als Betrüger entlarvt zu werden

Von Ginette Wiget, 13. Juli 2022

Werde ich versagen? Selbstzweifel, Angst und Stress bestimmen das Hochstapler-Selbstkonzept. (Credit: iStock)

Manche Menschen glauben, ihre Erfolge nicht verdient zu haben und sehen sich als Hochstapler. Was hinter diesem «Impostor-Phänomen» steckt und welche Strategien dagegen helfen.

«Die Angst, beruflich überschätzt zu werden und irgendwann aufzufliegen, ist weit verbreitet», sagt Sonja Rohrmann, Professorin für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie hat in einer Studie 242 Führungskräfte befragt und herausgefunden, dass rund die Hälfte solche Hochstapler-Gefühle kennt. In der Psychologie spricht man von einem «Impostor-Selbstkonzept » (engl. Impostor = Hochstapler). Laut Sonja Rohrmann leiden auch viele Berühmtheiten wie Jodie Foster, Tom Hanks oder Kate Winslet darunter. Die Expertin erklärt uns, worin sich Betroffene von echten Betrügern unterscheiden, wie das Hochstapler-Selbstkonzept entsteht und wie man sich davon befreit.

Frau Rohrmann, was ist der Unterschied zwischen einem geringen Selbstwertgefühl und Hochstapler- Gefühlen?
Hochstapler-Gefühle sind mehr als nur ein geringes Selbstwertgefühl. Es betrifft Menschen, die beruf lich sehr erfolgreich sind und trotzdem glauben, überschätzt zu werden. Sie schreiben ihren Erfolg dem Zufall zu und sehen sich als Betrüger. Mit jeder Aufgabe, die sie bewältigen müssen, ist die Angst verbunden, entlarvt zu werden.

Wer ist besonders häufig davon betroffen?
Früher nahmen die Fachleute an, vor allem Frauen würden unter Hochstapler-Gefühlen leiden. Doch das hat sich als Irrtum herausgestellt. Frauen und Männer trifft es gleichermassen, in allen Berufsgruppen. Es hat sich allerdings gezeigt, dass Menschen mit höherem Bildungsabschluss häufiger ein Impostor-Selbstkonzept besitzen.

Sonja Rohrmann, Professorin für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik, Goethe- Universität Frankfurt am Main DE (Credit: zVg.)

Manche Fachleute reden vom Hochstapler-Syndrom. Sie bevorzugen den Ausdruck «Hochstapler- Selbstkonzept». Weshalb?
Das Wort Syndrom kommt aus der Medizin und beschreibt eine Kombination von Symptomen, die ein Krankheitsbild charakterisieren. Das Impostor-Phänomen ist jedoch nicht als psychische Störung zu verstehen. Es ist ein Persönlichkeitsmerkmal. Dieses kann, wenn es stark ausgeprägt ist, aber zu einem hohem Leidensdruck führen. Solche Personen leiden unter starkem Stress, Versagensängsten, Schuld- und Schamgefühlen. Langfristig können sie psychische Erkrankungen wie Burn-out, Depressionen oder Angststörungen entwickeln. Betroffene sind sehr erfolgreich in ihrem Beruf.

Wie gelingt es ihnen, trotz der starken Selbstzweifel und Versagensängsten überhaupt Karriere zu machen?
Das liegt an der Persönlichkeitsstruktur, die dahinter steckt. Es betrifft Leute, die sehr perfektionistisch sind und viel Zeit in ihre beruf lichen Aufgaben investieren. Sie orientieren sich immer nach oben und verausgaben sich stark.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass manche aber auch dazu neigen, Aufgaben bis zur letzten Minute aufzuschieben.
Ja, es hat sich gezeigt, dass es unter den Betroffenen zwei Arbeitsstile gibt. Die einen sind perfektionistisch und bereiten sich exzessiv vor. Andere wiederum sagen sich, «das schaffe ich sowieso nicht» und schieben eine Aufgabe bis zur letzten Minute auf, das nennt man auch Prokrastination. Kurz vor der Abgabe arbeiten sie dann aber Tag und Nacht durch. Am Ende führen beide Arbeitsstile zu einer erfolgreichen Bewältigung der Aufgabe. Die Perfektionisten sagen sich dann, «das habe ich nur geschafft, weil ich so viel Zeit investiert habe.» Die Prokrastinierer denken, sie hätten dieses Mal einfach Glück gehabt und sind überzeugt, dass sie das nächste Mal versagen werden. Somit bleibt bei beiden Gruppen das Gefühl, eine Hochstaplerin oder ein Hochstapler zu sein.

Wie merke ich, ob ich an einem Impostor-Selbstkonzept leide oder wirklich hochstaple?
Das lässt sich klar abgrenzen. Hochstapler geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Sie schmücken sich zum Beispiel mit Titeln, die sie nicht haben. Durch ihre Lügen möchten sie sich Vorteile verschaffen. Mitunter machen sie sich dadurch sogar strafbar. Personen mit einem Impostor-Selbstkonzept stellen «ihr Licht hingegen unter den Scheffel». Sie glauben, sie können nichts, obwohl sie erfolgreich sind. Sie sind in Wirklichkeit also Tiefstapler.

Was sind die Gründe, dass jemand ein Impostor-Selbstkonzept entwickelt?
Die Entstehung ist komplex, es ist eine Kombination aus Anlage und Umwelt. Die Kindheit spielt dabei sicher eine wichtige Rolle. Man hat herausgefunden, dass bestimmte Familiendynamiken und Erziehungsstile das Impostor- Selbstkonzept begünstigen. Oft herrschte in den Familien der Betroffenen eine hohe Wettbewerbs- und Leistungsorientierung. Personen mit einem Impostor- Selbstkonzept wuchsen etwa mit dem Gefühl auf, dass ihr Wert von ihrer Leistung abhängt. Häufig hat in solchen Familien auch ein Geschwisterkind die Rolle des Intelligenten inne, während das andere als «hübsch» oder «sozial» betitelt wird. Trotz der Erfolge des «sozialen» Kindes hält die Familie an der Rollenzuschreibung fest, so dass es daran zweifelt, dass seine Leistungen mit seiner Kompetenz zu tun haben könnten.

Wie können Betroffene die Selbstzweifel und die Angst aufzufliegen, überwinden?
Meist helfen schon einfache Selbsthilfe-Massnahmen. Eine besteht darin, sich regelmässig aufzuschreiben, was man alles erreicht hat. Dann ist es auch wichtig, Herausforderungen wie zum Beispiel eine Beförderung nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie anzunehmen, auch wenn man Angst hat zu versagen. Hilfreich ist zudem, mit Kollegen, der Familie oder einem Coach darüber zu reden. Sie können helfen, das falsche Selbstbild zu korrigieren. Bei hohem Leidensdruck ist eine Psychotherapie ratsam. Bei allen Massnahmen geht es darum, die schädlichen Denkmuster und Arbeitsstile zu verändern. Ziel ist, ein realistisches Selbstwertgefühl aufzubauen, das nicht von der Bestätigung anderer abhängig ist.


Buchtipps:

Sonja Rohrmann. Wenn grosse Leistungen zu grossen Selbstzweifeln führen. Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen. Hogrefe, 30.90 Fr.

Michaela Muthig. Und morgen fliege ich auf: Vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben – Das Impostor-Syndrom erkennen und überwinden. DTV, 25.90 Fr.


Ginette Wiget ist freie Mitarbeiterin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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