Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 12. September 2024
In der Schweiz leiden rund 800 Menschen an der Blutgerinnungskrankheit Hämophilie. Ein beinahe normaler Alltag ist möglich, sagt der Kinder-Hämatologe Heinz Hengartner.
Heinz Hengartner, was ist Hämophilie?
Eine genetisch bedingte Blutgerinnungskrankheit. Den Betroffenen fehlt ein Protein ganz oder teilweise, das für die Bildung von Blutgerinnseln verantwortlich ist. Äussere und innere Blutungen können schwer gestoppt werden. Bei schwerer, unbehandelter Hämophilie kann es sogar zu Spontanblutungen kommen.
Zeigt sich die Krankheit bereits im Kindesalter?
Meist wird die Krankheit entdeckt, wenn Kinder anfangen zu krabbeln, sich dann an Möbeln stossen und dadurch rasch grosse Blutergüsse bekommen. Ist zudem bekannt, dass die Mutter Trägerin des Gendefekts ist, weiss man, dass ihr Sohn zu 50 Prozent von Hämophilie betroffen ist.
Wie wird die Krankheit vererbt?
Der Gendefekt befindet sich auf dem X-Chromosom, von dem Frauen zwei besitzen und Männer eines. Mädchen erben ein X-Chromosom von der Mutter und eines vom Vater. Ist eines davon krankhaft verändert, kann das andere den Gendefekt ausgleichen. Die Mädchen sind dann Trägerinnen von Hämophilie, haben aber kaum Symptome. Buben erben nur ein X-Chromosom der Mutter. Wird ihnen das veränderte weitergegeben, erkranken sie an Hämophilie.
Also leiden fast nur Männer an Hämophilie?
Genau. Allerdings wird die Krankheit nicht ausschliesslich über die Eltern vererbt. Bei mehr als 30 Prozent der Betroffenen handelt es sich um eine spontane Genmutation.
Schränkt die Krankheit Betroffene im Alltag ein?
Früher riet man Kindern mit Hämophilie von körperlichen Aktivitäten wie Fussball- oder Hockeyspielen ab. Dies, um Gelenk- und Muskelblutungen zu vermeiden. Mit den heute verfügbaren Medikamenten können Menschen mit Hämophilie die meisten Sportarten ausüben. Ziel einer modernen Behandlung ist, dass Erkrankte weitgehend so leben können wie Gesunde. In den letzten Jahren wurden grosse Fortschritte erlangt.
Inwiefern?
Seit sechs Jahren gibt es ein Medikament, das nicht in die Vene, sondern unter die Haut injiziert wird. Das ist für Kleinkinder sehr viel angenehmer. Im Herbst wird zudem ein neues Medikament auf den Markt kommen, das man sich nur noch einmal pro Woche vorbeugend in die Vene spritzt.