Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 9. März 2023
Vorurteilslos, loyal und exakt: Viele Eigenschaften von autistischen Menschen sind wertvoll für die Gesellschaft, sagt der Psychologe Matthias Huber.
Matthias Huber, was unterscheidet Menschen mit Asperger-Autismus von solchen mit anderen Formen von Autismus?
Sie fallen weniger auf, da sie weder eine kognitive Beeinträchtigung noch eine verzögerte Sprachentwicklung haben. Die Diagnose Asperger-Autismus wird mit der Zeit verschwinden. Da es viele Mischformen gibt, spricht man künftig nur noch von stärker und schwächer ausgeprägten Autismus- Spektrum-Störungen.
Was ist typisch für Autismus- Betroffene?
Der soziale Umgang bereitet ihnen Mühe. Unter anderem, weil sie alles wortwörtlich nehmen. Zudem fokussieren sie sich auf Details, erfassen aber das grosse Ganze nicht. Häufig leiden sie auch an Überempfindlichkeiten.
Wie fühlen die sich an? Grelles Licht empfinden Betroffene zum Beispiel als Nadelstiche in die Augäpfel. Lärm kann sich für sie anfühlen, als hätten sie Scherben im Gehörgang.
Wie erleichtert man Menschen mit Autismus den Alltag?
Das ist individuell. Bei den einen ist es wichtig, sie vor störenden Sinneseindrücken zu schützen, bei anderen, genaue Uhrzeiten statt schwammige Ausdrücke wie «bald» zu verwenden. Ausserdem sollte man nicht denken, Menschen mit Autismus fehle das Interesse am Kontakt, wenn sie einsilbig antworten. Sie wollen nur korrekt sein.
Weshalb bleibt Autismus bei Mädchen oft lange unentdeckt?
Sie sind meist sozial kompetenter als Buben. Oft werden sie für schüchtern gehalten, dabei verstehen sie das Konzept eines Dialogs nicht. Mädchen haben auch weniger ausgefallene Spezialinteressen. Sie lernen kaum Tramhaltestellen auswendig, sondern sind eher fasziniert von Tieren – von Dingen, die andere Gleichaltrige auch interessieren.
Gibt es auch Vorteile?
Auf jeden Fall. Die Betroffenen arbeiten extrem genau und erkennen Fehler rasch. Das ist in der Berufswelt sehr nützlich. Zudem besitzen sie viele positive Charakterzüge: Sie sind frei von Vorurteilen, loyal, und es entspricht nicht ihrem Wesen, gemein zu sein.
Sie haben selbst Autismus. Erleichtert Ihnen das die Arbeit mit Betroffenen?
Ja, weil ich ähnlich denke wie sie. Eltern erzählen mir oft, ihr Kind habe gesagt: «Ich glaube, ich bin so wie dieser Mann. Der versteht mich.»