Amnesie – das weisse Loch im Kopf

Von Nadine A. Brügger, 22. Mai 2019

Wenn die Erinnerung blank wird, verschwindet nicht nur die Geschichte eines Menschen, sondern auch ein Teil von ihm selbst. (iStock)

Erinnerungen machen Leute. Was, wenn sie plötzlich fehlen? Dann sprechen Mediziner von einer Amnesie. Der Neurologe Hans Jung erklärt das Vergessen.

Hans Jung ist leitender Arzt an der Klinik für Neurologie, am Universitäts Spital Zürich. (USZ)

«Weisch no? Weisch no?», beschwor einst Mundartrocker Polo Hofer. «Viellech tönt’s nostalgisch, aber i dänke no dra. Wül das doch normal isch, we me’s guet het gha.» Wissen Sie noch? Erinnern sie sich an dieses eine Lied, bei dem das Gedächtnis sofort Luftsprünge macht? An einen besonderen Augenblick, der ihnen Schauer von Nostalgie beschert? Diesen einen Moment, der Sie bis heute prägt? Erlebnisse, und unsere Erinnerungen daran, sind es, die eine Persönlichkeit formen. Über die Jahre füllt sich das Erinnerungs-Album, das unser Gedächtnis ist, mit Bildern, Skizzen und Worten. Was, wenn auf einmal all die bunten, vollen Seiten blank werden? Dann sprechen Mediziner von einer Amnesie.

Wer alte Erinnerungen nicht mehr abrufen kann, leidet an retrograder Amnesie.

Arten der Amnesie
Wer alte Erinnerungen nicht mehr abrufen kann, leidet an retrograder Amnesie. Dabei ist der Zugang zum Gedächtnis, zur Festplatte, die unsere Erinnerungen speichert, gesperrt. Betroffen ist in erster Linie das Langzeitgedächtnis. Wer dagegen neue Erinnerungen nicht mehr ablegen kann, leidet an anterograder Amnesie. Hierbei ist vornehmlich das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Ist sowohl der Zugang zu alten Erinnerungen, als auch das Abspeichern von neuen erschwert, sprechen Mediziner von globaler Amnesie. «Ursache und Art eines Gedächtnisverlustes sind sehr unterschiedlich», sagt der Neurologe Hans Jung. Er ist leitender Arzt an der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich. «Ein schwerer Kopfunfall, ein sogenanntes Schädel-Hirn-Trauma, kann zu einer Amnesie führen. Aber auch Hirnblutungen, ein Hirninfarkt, ein Tumor oder eine Demenz-Erkrankung können das Gehirn dort beschädigen, wo Erinnerungen gespeichert werden.»

Seepferdchen im Kopf
Wer an einer anterograden Amnesie leidet, also keine neuen Erinnerungen mehr bilden kann, hat meist eine Verletzung an beiden Seiten des Hippocampus. Diese Gehirnstruktur liegt im Schläfenlappen und hat die Form eines Seepferdchens. Darum wurde sie Hippocampus genannt -– nach dem lateinischen Wort für den kleinen Meeresbewohner. Ist nur eine Seite des Hippocampus verletzt, kommt es meist zu einer retrograden Amnesie. Dann ist das Abrufen der Erinnerungen betroffen. Auch Verletzungen an anderen Hirnstrukturen, etwa dem Zwischenhirn, das mit dem Hippocampus zusammen zu arbeiten scheint, können unser Erinnerungsvermögen verschlechtern. «Auch chronische Alkoholiker können eine Amnesie entwickeln.» sagt Jung «man spricht dann vom sogenannten Korsakow-Syndrom».  Alkohol schädigt die Nerven und wirkt als Zellgift. Damit werden wichtige Strukturen im Hirn für immer zerstört. Zudem haben Alkoholiker oder andere Suchterkrankte, aber auch Menschen mit Ess-Störungen, die mit Mangelernährung einhergehen, einen chronischen Vitamin-B1-Mangel. Das erschwert das bilden neuer Erinnerungen ebenso, wie das Abrufen der alten. «Selbst wenn die Betroffenen ihre Alkoholsucht in den Griff bekommen: Das Gedächtnis kann beschädigt bleiben», sagt Jung.

Wer neue Erinnerungen nicht mehr ablegen kann, leidet an anterograder Amnesie.

Vergessen als Schutz
Konkrete Verletzungen des Gehirns, die zu einem Gedächtnisverlust führen, können oft nachgewiesen und abgebildet werden. «Aber nicht alle Ursachen einer Amnesie sind sichtbar», sagt Jung. «Ein Gedächtnisverlust kann in seltenen Fällen im Rahmen von psychiatrischen Erkrankungen ausgelöst werden. Stress und Druck, schlimme Erfahrungen und unerträgliche Erlebnisse führen teilweise dazu, dass das Unterbewusstsein den Zugang zu bestimmten Erinnerungen blockiert», so Jung. Es ist diese sogenannte Psychologische Amnesie, die es in Hollywood ganz weit gebracht hat: Ein Mensch erinnert sich weder an seinen Namen, noch an seine Herkunft oder an das, was ihm zugestossen ist. Allerdings beherrscht er oder sie Alltagshandlungen und die Sprache noch immer ganz normal. Die Geschichte von Gedächtnisverlust und -wiederfinden macht meist grosses Kino. Die Realität sieht anders aus. «Die meisten Patienten, die ohne Erinnerung an die eigene Person aufgefunden werden leiden an einer psychiatrischen Erkrankung », sagt Jung. Bei psychologischer Amnesie kann es sein, dass die Erinnerungen wieder zurückkommen. «Auch bei Verletzungen kann sich ein Teil der Gedächtnisfunktion wiederherstellen. Dann nämlich, wenn andere, gesunde Regionen die Arbeit übernehmen», sagt Jung. «Dabei kommt es sehr stark auf die Art und Schwere der Hirnschädigung an.»

«Es gibt Fälle, in denen Menschen für einen Tag ihr Gedächtnis komplett verlieren. Nach spätestens 24 Stunden kommt es wieder zurück.»
Professor Hans Jung, Neurologe USZ

Die 24-Stunden-Amnesie
Nicht immer geht die Amnesie allerdings mit einem schlimmen Ereignis einher. «Es gibt Fälle, in denen vor allem ältere Menschen für maximal einen Tag ihr Gedächtnis komplett verlieren. Zwischen zwölf und 24 Stunden erleiden sie eine globale Amnesie. Sie können also weder neue Erinnerungen bilden, noch alte abrufen. Man nennt das Phänomen eine Transiente Globale Amnesie (TGA)», erzählt Jung. «Diese kurze amnestische Episode gilt als harmlos. Sie ist weder ein Vorbote, für eine Erkrankung wie Alzheimer, noch das Ergebnis eines Unfalls.» Erst hielt man die 24-Stunden-Amnesie für eine Art Epilepsie oder Schlaganfall. Jung schüttelt den Kopf. «Das ist es alles nicht. Am ehesten kann man die TGA mit einem Migräne-Anfall vergleichen. Allerdings funktionieren die Betroffenen in dieser Zeit ganz normal. Also – abgesehen davon, dass ihnen das Gedächtnis fehlt. Für sie selber ist die TGA also harmlos. Aber für das Umfeld ist es ein Schock.» Jung weiss, wovon er spricht. Ein Kollege von ihm, ein Hausarzt, erlebte eine TGA. «Er hat seine Arbeit an diesem Tag ganz normal verrichtet. Erst, als er nach Hause ging, bemerkte seine Familie, das etwas nicht stimmt.» Doch als der Tag zu Ende ging, verschwand auch die Amnesie wieder – wie ein Spuk. Sie existiert nur noch im Gedächtnis der Familie. Und der betroffene Arzt selber? Der hat diesen Tag vergessen.

Die Autorin dieses Artikels, Nadine A. Brügger, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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