«Viele Betroffene verschweigen ihr Leiden»

Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 16. Mai 2024

(Symbolbild: iStock)

Stuhlinkontinenz ist stark mit Scham behaftet. Dabei ist ein Drittel der über 65-Jährigen davon betroffen. Oft helfen konservative Therapien, sagt der Gastroenterologe Andreas Müller.

Andreas Müller, welches sind die Hauptursachen von Stuhlinkontinenz?
Für unsere Kontinenz sind zwei Schliessmuskeln, der Nervus pudendus sowie der Enddarm zuständig. Liegen in einem dieser Bereiche Schädigungen vor, kann es zu Inkontinenz kommen. Besonders häufig sind Muskelschäden nach schweren Geburten. Diese können im Alter, wenn die Muskulatur schwächer wird, zu Stuhlinkontinenz führen. Eine weitere mögliche Ursache ist die Senkung des Beckenbodens, die die Nerven schädigt. Ausserdem erhöhen Eingriffe am Enddarm das Risiko für eine Stuhlinkontinenz.

Wie viele sind von Stuhlinkontinenz betroffen?
5 bis 12 Prozent der Bevölkerung – also viel mehr, als man denkt. Bei den über 65-Jährigen leidet sogar ein Drittel darunter, Frauen häufiger als Männer.

Andreas Müller ist Facharzt für Gastroenterologie am Gastrozentrum der Klinik Hirslanden in Zürich.

Wann sollte man eine Fachperson aufsuchen?
Die Inkontinenzerscheinungen werden in drei Schweregrade unterteilt: Grad eins bedeutet, dass jemand die Luft nicht mehr halten kann. Von Grad zwei spricht man, wenn flüssiges Material abgeht, und von Grad drei, wenn es sich um festen Stuhl handelt. Zu einem ernsten Problem wird es für Betroffene meist ab Grad zwei. Grundsätzlich sollten sie eine Fachperson aufsuchen, wenn sie sich eingeschränkt fühlen.

Viele schämen sich für ihr Problem. Lassen sie es zu spät abklären?
Stuhlinkontinenz ist eines der grössten Tabuthemen. Viele Menschen haben sogar Hemmungen, dem Hausarzt oder der Hausärztin davon zu berichten. Durch das Zuwarten wird das Problem nicht verschlimmert, aber der Leidensweg verlängert.

Welche Therapien helfen gegen Stuhlinkontinenz?
Als erste Massnahme können der Wirkstoff Loperamid sowie Flohsamen eingenommen werden. Loperamid stärkt den inneren Schliessmuskel, Flohsamen machen den Stuhl kompakter. Mit dem sogenannten Biofeedback kann der äussere Muskel gestärkt werden. Dabei sieht der Patient oder die Patientin am Monitor die Aktivität des Muskels und lernt, dessen Funktion zu trainieren. Weiter können die Nerven mit einer Nadel am Fuss oder einer Magnetspule am Rücken stimuliert werden.

Wann ist eine Operation nötig?
Wenn der Muskel stark beschädigt ist, muss er womöglich zusammengenäht werden. Waren zudem die genannten konservativen Methoden nicht erfolgreich, kann eine Elektrode implantiert werden, welche die Nerven des Beckenbodens stimuliert. Bei drei Vierteln meiner Patientinnen und Patienten ist jedoch keine OP nötig.

 

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