«Seine Zwänge anzunehmen, ist das Ziel»

Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 22. Februar 2024

(Symbolbild: ENVATO)

Ein bis drei Prozent der Bevölkerung sind von Zwangsstörungen betroffen. Diese schränken den Alltag ein, lassen sich aber gut behandeln, sagt die Psychiaterin Katrin Pinhard.

Katrin Pinhard, was unterscheidet ein Kontrollritual von einem Zwang?
Kontrollrituale kennt fast jeder: Wir überprüfen vor dem Verlassen der Wohnung etwa, ob der Herd ausgeschaltet ist. Bei Menschen mit einer Zwangserkrankung stellt sich danach kein Sicherheitsgefühl ein. Sie müssen ihre Kontrollhandlungen wiederholen. Oft bestehen diese aus einem fixen Ablauf, oder sie werden fortgesetzt, bis sich das Gefühl einstellt: «Jetzt ist es okay.» Die Zwangshandlungen können sich über Stunden hinziehen.

Katrin Pinhard ist Oberärztin Verhaltenstherapie, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel.

Wann sollte man Hilfe suchen?
Wenn die Kontrollen so viel Zeit einnehmen, dass sie den Alltag einschränken und das Familienleben, die Arbeit oder die Erholung zu kurz kommen. Oder wenn ein Leidensdruck besteht.

Welche Zwänge sind besonders häufig?
Der erwähnte Kontrollzwang, aber auch Wasch- oder Zählzwänge. Die häufigsten Zwangsgedanken beinhalten die Furcht davor, sich mit Keimen anzustecken. Oder Betroffene stellen sich vor, sie könnten anderen Menschen Gewalt antun. Tatsächlich würden sie das nicht tun, doch sie schämen sich für ihre Gedanken und sprechen häufig nicht darüber. Darum werden Zwangsstörungen meist spät diagnostiziert.

Warum entwickeln Menschen Zwänge?
Ein Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und äusseren Faktoren führt zu Zwangsstörungen. Bei über der Hälfte der Betroffenen gibt es im Vorfeld der Erkrankung Ereignisse, die als stressig erlebt wurden, oder andere Belastungsfaktoren.

Zwangserkrankungen werden unter anderem mit der Akzeptanz-und-Commitment- Therapie behandelt. Wie funktioniert diese?
Neben klassischen verhaltenstherapeutischen Elementen liegt der Fokus darauf, eine annehmende Haltung gegenüber seinen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen zu entwickeln. Betroffene lernen, ihre Zwangsgedanken zu erkennen, sich bewusst gegen die Zwangshandlungen zu entscheiden und stattdessen wieder das zu tun, was ihnen wichtig ist. Dies geschieht unter anderem, indem Patientinnen und Patienten neue Erfahrungen in ihrem Alltag sammeln: So wird zum Beispiel bewusst eine Türklinke angefasst und die Zwangshandlung, sich die Hände zu waschen, unterlassen. Gemeinsam üben wir, mit den dabei aufkommenden Emotionen einen Umgang zu finden.

Ist es möglich, Zwänge komplett loszuwerden?
Das ist möglich, aber nicht das primäre Ziel. Vielmehr geht es darum, die Lebensqualität zu verbessern. Das gelingt bei einem grossen Teil der Betroffenen.

 

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