«Aufklärung nimmt Betroffenen viel Druck»

Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 4. Januar 2024

(Symbolbild: iStock)

Das Tourette-Syndromzeigt sich mit verschiedenen unkontrollierbaren Tics. Bei Stress treten sie gehäuft auf, sagt der Neurologe Michael Orth.

Michael Orth, wie erkennt man, ob jemand bloss einen Tic hat oder am Tourette-Syndrom leidet?
Von einem Tourette-Syndrom spricht man erst, wenn mehrere motorische und ein Geräusch- Tic vorliegen. Diese müssen vor dem 18. Lebensjahr auftreten und mindestens ein Jahr vorhanden sein. Meist entwickeln Betroffene erste Tics im Alter zwischen fünf und acht Jahren.

Kann das Tourette- Syndrom verschwinden?
Die Intensität des Tourette-Syndroms nimmt oft bis zur Pubertät zu. Bei der Hälfte der Jugendlichen mit Tourette schwächt sich dann das Syndrom bis zum 20. Lebensjahr deutlich ab, oder es verschwindet fast. Bei der anderen Hälfte bleiben die Tics mit grosser Wahrscheinlichkeit für den Rest des Lebens.

Michael Orth ist Leiter des Neurozentrums und Chefarzt Neurologie der Stiftung Siloah in Gümligen BE.

Welche Tics sind häufig?
Blinzeln, Augenrollen und Räuspern. Oft sind diese «Augen- Tics» die ersten, die im Kindesalter auftreten. Auch häufig sind Naserümpfen und Kopfnicken. Sehr selten sind obszöne Gesten und unkontrolliertes Fluchen.

Durch welche Reize werden die Tics ausgelöst?
Meist treten sie auf, wenn es besonders unpassend ist. Betroffene müssen Laute von sich geben, wenn erwartet wird, dass man still ist. Zudem verstärkt Stress die Tics. Es gibt auch das Phänomen, dass die Tics bei gewissen Tätigkeiten verschwinden. Ich kenne zum Beispiel einen Musiker, der keine Tics hat, sobald er im Orchestergraben sitzt.

Ist die Ursache des Tourette- Syndroms bekannt?
Nicht abschliessend. Vermutlich liegt eine genetische Komponente vor. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder von Menschen mit Tourette-Syndrom die Erkrankung zwingend erben. Man geht davon aus, dass zur Entstehung ein weiterer Faktor nötig ist. Zum Beispiel wurde eine Aktivierung des Immunsystems imRahmen einer Streptokokken- Infektion diskutiert.

Wie wird Tourette behandelt?
Wesentlich ist die Aufklärung: Eltern und Lehrpersonen müssen wissen, dass das Kind nicht ticct, um andere zu ärgern. Auch die Klassenkameraden sollten informiert werden, damit sie das Kind nicht hänseln. Das nimmt den Betroffenen viel Druck. Stellen die Tics ein Problem dar, können Medikamente verschrieben werden. Mittels Verhaltenstherapie wird zudem versucht, den Drang zum Ticcen in andere Handlungen umzuleiten – dass Betroffene etwa einen Gummiball drücken, anstatt einen Laut auszustossen. Bei schweren Fällen ist eine tiefe Hirnstimulation möglich, bei der Elektroden ins Gehirn implantiert werden.

 

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