Von Danica Gröhlich, 5. Oktober 2022
In der Familie, im Umfeld oder am Arbeitsplatz: Wir kennen beinahe alle jemanden mit psychischen Problemen. Doch was tun, wann handeln und wie ansprechen?
«Erste Hilfe für psychische Gesundheit ist erstaunlich einfach zu lernen und nachweislich hoch wirksam», erklärt Dr. Dalit Jäckel- Lang, Leiterin Prävention und Leiterin ensa Schweiz bei der Stiftung Pro Mente Sana. Das Wort «ensa» stammt aus einer der über 300 Sprachen der australischen Ureinwohner und bedeutet «Antwort». Denn ensa will die passende Antwort liefern für den Umgang mit Menschen in psychischen Schwierigkeiten.
Frau Dr. Jäckel-Lang, jeder zweite Mensch kämpft einmal im Leben mit psychischen Problemen. Nehmen die Fälle derzeit zu?
Ganz allgemein stellen Unsicherheit und Fremdbestimmtheit eine Belastung für die psychische Gesundheit dar, so ein Bericht des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Nach der Pandemie sind wir nun durch den Ukraine-Krieg und dessen Folgen weiter damit konfrontiert. Bereits seit Pandemie-Beginn berichten mehr Personen von erhöhter psychischer Belastung. Die Schweizer Bevölkerung wurde aber unterschiedlich stark tangiert: Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene litten vermehrt. Dies widerspiegelt sich auch in der hohen Hospitalisierungsrate von Kindern und Jugendlichen, wie das Schweizerische Gesundheitsobservatorium meldet. Doch auch Personen aus niedrigen Einkommens- und Bildungsschichten, Personen mit psychischen Vorerkrankungen sowie alleinlebende und sozial isolierte Personen hatten zu kämpfen. Das Homeoffice wird dabei aufgrund der hohen Autonomie und dem wegfallenden Arbeitsweg sogar oftmals als positiv und entlastend erlebt. Es bringt aber auch eine Einschränkung sozialer Kontakte mit sich. So haben sich Einsamkeitsgefühle verstärkt. Diese gelten wiederum als Risikofaktor für die psychische Gesundheit.
Wie merke ich denn, wenn es meiner Arbeitskollegin, dem -kollegen schlecht geht?
Psychische Belastungen machen sich in der Regel zuerst im Verhalten, in der Stimmung und in den Beziehungen bemerkbar – und erst später auch in der Leistung. Aus Angst vor negativen Konsequenzen machen Mitarbeitende alles, damit Probleme am Arbeitsplatz möglichst unentdeckt bleiben. Die Anzeichen können sehr divers sein, und sich bereits in einem Rückzug äussern – die Kollegin kommt etwa nicht mehr in die Kaffeepause. Weitere Symptome können beispielsweise Stimmungsschwankungen, häufige Konflikte, mangelnde Geduld, geistige Abwesenheit oder ständiger Sarkasmus sein. Dabei geht es nicht um Persönlichkeitsmerkmale, welche Ihnen bei der Person vertraut sind, sondern um Verhaltensänderungen, die Sie beobachten. Wenn Sie Probleme vermuten, ist es wichtig, rasch zu handeln. In der Arbeitsfähigkeit werden meist erst später Anzeichen deutlich. Typisch sind übermässige Empfindlichkeit bei Kritik, Unsicherheit, mangelnde Flexibilität oder Häufung von Kurzabsenzen.
Wie reagiere ich dann am besten?
Dass Sie aktiv werden und die Person ansprechen, ist der wichtigste Punkt überhaupt. Wir Schweizer sind es uns oft nicht gewohnt, dass am Arbeitsplatz über Persönliches und die Gesundheit gesprochen wird, was den Gesprächseinstieg erschweren kann. Suchen Sie das Gespräch zu einem ruhigen Zeitpunkt an einem diskreten Ort, nicht zwischen Tür und Angel eines unangenehmen Meetings. Beschreiben Sie konkret, welche Beobachtungen Ihnen Sorgen machen. Viele Menschen trauen sich nicht, direkt nach psychischen Problemen zu fragen. In der Regel tut es Betroffenen aber gut, wenn sie die Gelegenheit erhalten, über ihre Belastungen zu sprechen und sie sich ernstgenommen fühlen.
Nachzufragen braucht sicher Mut.
Ja, Nachfragen braucht viel Mut, aber auch für Betroffene braucht die Antwort Mut, gerade am Arbeitsplatz. Obwohl es Betroffenen meist guttut, wenn sie merken, dass sich jemand um sie sorgt, können Scham oder Angst vor Stigmatisierung vorerst zu einer Ablehnung des Gesprächs führen. Es kann deshalb sein, dass Ihr Kollege nicht oder noch nicht bereit ist, sich in einem Gespräch zu öffnen. Drängen Sie die betroffene Person deshalb nicht und versuchen Sie, die Reaktion nicht zu werten. Sie können etwa sagen, dass Sie zu einem späteren Zeitpunkt für ein Gespräch zur Verfügung stehen oder anregen, dass die Person mit jemand anderem spricht, dem sie vertraut.
Kann ich das auch privat anwenden?
Selbstverständlich kann die Erste Hilfe für psychische Gesundheit auch privat sehr gut angewendet werden. Bei nahestehenden Personen erkennen Sie Verhaltensänderungen relativ schnell, auch wenn Sie diese selbst vielleicht nicht gleich einordnen können. Im privaten Kontext kann das Gespräch leichter fallen, da die Angst vor einem Stellenverlust aufgrund der psychischen Probleme wegfällt. In beiden Fällen kann es sein, dass Sie sich nach einem Gespräch frustriert oder gar wütend fühlen. Dann ist es wichtig, dass Sie auch auf sich selbst achten und etwas unternehmen, was Ihnen Freude bereitet.
Über 10’000 Teilnehmende
Das Projekt ensa ist die Schweizer Version des australischen Programms «Mental Health First Aid». Es wurde 2019 in der Schweiz von der Stiftung Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung ins Leben gerufen. Bereits im Jahr 2000 haben Betty Kitchener und Prof. Tony Jorm den Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit in Australien entwickelt. Ihr Ziel war, die Idee von Nothelferkursen auf psychische Probleme zu übertragen. Laien sollen helfen können, wenn bei nahestehenden Personen psychische Schwierigkeiten auftreten, eine bestehende psychische Beeinträchtigung schlimmer wird oder eine akute psychische Krise ausbricht. So gibt es nun «ensa Erste-Hilfe-Kurse» mit Fokus Erwachsene, auf Jugendliche für Berufsbildende oder Kurse für Führungskräfte. Seit Beginn der Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit 2019 wurden in der Schweiz rund 1100 Kurse und Webinare mit insgesamt über 11’000 Teilnehmenden durchgeführt.
Weitere Informationen auf: www.ensa.swiss
Alles «ROGER»?
In der Ersten Hilfe für psychische Gesundheit entspricht ROGER dem ABCD im Nothelferkurs oder, wie es die meisten noch gelernt haben, der GABI. Das erste R steht dabei für Reagieren: Die betroffene Person soll möglichst früh angesprochen werden, bevor das Problem zu gross wird. Hier wird vom Ersthelfenden auch eingeschätzt, ob es sich um eine akute Krise wie Suizidalität oder selbstverletzendes Verhalten handelt und sofort gehandelt werden muss. Der Buchstabe O steht für offene und unvoreingenommene Kommunikation. G bedeutet «Gib Unterstützung und Information», dazu gehört auch das Hoffnung geben: Psychische Erkrankungen sind häufig und in der Regel gut therapierbar – je früher, desto erfolgreicher. Der Buchstabe E steht für Ermutigen zu professioneller Hilfe. Wie im Nothelferkurs wird auch bei ensa gelehrt, dass die Ersthelfenden die oder den Betroffenen zwingend an eine Fachperson weiter vermitteln sollen. Denn ensa bildet keine Laien-Therapeutinnen und -Therapeuten aus. Das zweite R schliesslich steht für das Reaktivieren eigener Ressourcen wie zum Beispiel Freunde und Familie, aber auch Sport und Hobbys.