«Yesterday»: Gefangen in der Endlosschleife

Von Danica Gröhlich, 7. September 2022

Festgebissen: Was gegen einen hartnäckigen Ohrwurm im Kopf hilft. (Credit: iStock)

Ein Ohrwurm ist zwar kein medizinischer Notfall, kann aber durchaus nerven. Warum wir Ohrwürmer bekommen, welche Songs besonderes Hit-Potential haben und wie Sie das Singen im Kopf wieder loswerden.

Ob «Atemlos durch die Nacht» von Helene Fischer oder «Yesterday» von den Beatles: Wetten, es singt in Ihrem Kopf immer noch weiter? Das Phänomen des sogenannten Ohrwurms hat sich Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller genauer angesehen. Denn er weiss, wie der Ton die Musik macht. Der Liebhaber klassischer Melodien ist Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Musikhochschule in Hannover.

Herr Prof. Altenmüller, erinnern Sie sich an Ihren letzten Ohrwurm?
In der Tat habe ich immer ziemlich viele Ohrwürmer. Heute früh habe ich mir die Sinfonischen Variationen für Klavier von Robert Schumann angehört. Dieses Stück habe ich bewusst gestreamt, um dazu meine morgendliche Gymnastik zu machen. Doch dann ging mir die Melodie sicher zwei Stunden lang nicht mehr aus dem Kopf. Ich war also selbst «schuld» an meinem Ohrwurm. Allerdings hat mich das nicht wirklich gestört, da es eine sehr schöne Tonfolge ist, die ich immer wieder gerne höre.

Warum kommt es überhaupt zum Ohrwurm?
Bei einem Ohrwurm handelt es sich eigentlich um einen musikalischen Gedächtnisinhalt. Dabei speichert das Gehirn im sogenannten Schläfenlappen Melodien. Den Abruf dieser gespeicherten Melodien unterdrücken wir normalerweise, etwa in diesem Augenblick, wenn wir miteinander übers Telefon sprechen. In Momenten der Entspannung, aber auch willentlich, können wir aber bewusst oder unbewusst «zulassen», dass diese Melodien in unserem Kopf erklingen, und wir diese Blockierung aufheben. Das führt dann dazu, dass wir – auch innerlich und für andere unhörbar – diese Melodien mitsingen, was wieder dazu führt, dass im Schläfenlappen erneut das innere Hören aktiviert wird. Wir befinden uns dann quasi in einer Endlosschleife zwischen innerem Singen und innerem Hören. Dies lässt sich, wie gesagt, auch bewusst steuern. Möchte ich eine Melodie hören, kann ich diese Hemmung gezielt aufheben. Doch dies geschieht auch oft unbewusst.

Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller, Direktor, Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin (IMMM), Hannover (Credit: zVg.)

Was wäre denn ein idealer Zeitpunkt für den Ohrwurm, damit er sich «einnisten» kann?
Das geschieht meistens in Zeiten der Entspannung, in denen die Aufmerksamkeit frei wandert und man etwas ermüdet ist. Also oft nachmittags durch die Verdauungsmüdigkeit oder abends nach einem langen Tag. Wenn wir uns jedoch morgens einen Ohrwurm durchs Radio «auflesen», dann häufig, weil wir noch nebenbei so einige Dinge im Bad erledigen, wie etwa uns die Zähne zu putzen. Dann wird die besagte Blockierung schneller abgeschaltet. Die meisten Menschen haben zwar Ohrwürmer, aber je mehr Musik ich höre und musikalisch aktiver ich bin, desto häufiger habe ich sie. Auch, wer selbst ein Instrument spielt, hat öfters eine Melodie, die er nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Demzufolge haben Berufsmusikerinnen und -musiker häufiger Ohrwürmer.

Spielt der Text auch eine Rolle?
Der Text spielt auf jeden Fall eine Rolle. Meist sind es ja Melodien, die relativ einfach sind und, die man gut mitsingen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Ohrwurm bildet, steigt mit der Häufigkeit, also wie oft ich einen Song höre. So hat ein Jahrhundert-Song wie «Yesterday » von den Beatles oder ein Chart-Hit grosses Ohrwurm-Potential. Zusätzlich spielt auch die emotionale Bewertung eine Rolle. Also Gefühle der Nostalgie sowie starke Emotionen, die dabei ausgelöst werden. Beispielsweise, wenn ein bestimmtes Lied beim ersten Kennenlernen lief. Allerdings können wir nicht nur Ohrwürmer von Musik bekommen, die wir mögen. Rund 70 Prozent der Ohrwurm-Songs sind angenehm, beim Rest der Musik, die man eigentlich gar nicht so mag, kann es aber ebenfalls zum Ohrwurm kommen. Doch auch dies sind immer einfache Songs mit einfachen Texten wie derzeit etwa das Ballermann-Lied «Layla», das ja aufgrund des Textes an einigen Orten verboten wurde. Ein einprägsamer Text kann dieses Ohrwurm-Potential noch verstärken, wenn er zusätzlich an die Emotionen appelliert oder sich auch noch reimt. Selbst bestimmte Sätze können zu einem Ohrwurm werden, ganz ohne Musik. Meistens handelt es sich dann um Sätze, die einem bedeutsame Menschen einmal gesagt haben. Beispielsweise Liebesbekundungen und Worte der Zuneigung. Auch Gedichte, die eher nicht so anspruchsvoll sind, oder Sprüche können einem nachgehen. So kennt wahrscheinlich jede Familie solche simplen Reimereien.

Kann ich Ohrwürmer «anzüchten»?
Das hängt sicher davon ab, wie reichhaltig Ihr eigenes Musik-Gedächtnis bisher ausgeprägt war. Das ist tatsächlich übungsabhängig. Deswegen haben auch Berufsmusikerinnen und -musiker eine geringere Hemmschwelle, damit sich etwas als Ohrwurm festhakt. Dies kann man sich antrainieren, wenn man mehr Musik hört. Auch eine Dirigentin oder ein Dirigent kann sich ein gesamtes Abendprogramm in der Stille vorstellen und innerlich anhören. Herbert von Karajan beispielsweise musste sich in einer Studie eine ganze Symphonie von Anton Bruckner vorstellen und konnte am nächsten Tag dieselbe etwa 80 Minuten dauernde Symphonie sich mit einer Tempo-Konstanz bis auf wenige Sekunden genau vorstellen. Gleichzeitig können sich auch die Finger bewegen. Auf diese Art und Weise sind Konzert- Pianistinnen und -Pianisten fähig, im Flugzeug oder in der Eisenbahn ein Stück zu lernen. Der Pianist Arthur Rubinstein hat auf diese Weise ein ganzes Konzertprogramm neu einstudiert.

Doch wie kann ich dann einen Ohrwurm wieder loswerden?
Es gibt da drei Möglichkeiten. Erstens können Sie sich ganz stark auf etwas Anderes konzentrieren. Dieser Stimulus reisst so Ihre Aufmerksamkeit los und lenkt diese auf etwas Anderes. Beispielsweise indem Sie einen Brief schreiben. Dann könnten Sie sich natürlich ein anderes Lied anhören oder singen. Sie sollten nur aufpassen, dass der nächste Song nicht ebenfalls zum Ohrwurm wird. Als 3. Möglichkeit hilft Kaugummikauen. Das liegt vermutlich daran, dass die Endlosschleife zwischen dem Singen und dem Hören durch das Kaugummikauen quasi unterbrochen wird.

Und was wirkt bei Ihnen am besten?
Bei mir ist es so, dass ich den Aufmerksamkeitsfokus gut steuern und mich so auch gut wieder ablenken kann. Mit dem Kaugummikauen habe ich aufgehört, weil ich mir damit immer die Zahnplomben rausgezogen habe. Da hatte mein Zahnarzt keine Freude – und ich nach den gesalzenen Rechnungen, nur wegen eines Ohrwurms, auch nicht mehr…


So hören wir

Wir, oder vielmehr unsere Ohren, funktionieren nicht wie ein einfaches Mikrofon. Denn das Hören setzt sich im Gehirn als komplexer Vorgang zusammen. Zuerst wird der Schall im Innenohr umgewandelt. Luftdruckschwankungen werden zu Nervenzellimpulsen, die wiederum ans Gehirn weitergeleitet und dort insgesamt fünfmal umgeschaltet werden. So werden bei der 3. Umschaltung das Sehen und Hören gekoppelt, etwa wenn wir auf die Lippen unseres Gegenübers beim Sprechen schauen. Hören ist also ein aktiver Prozess, bei dem das Gehirn enorme Arbeit leisten muss. Deshalb können Hirnverletzungen wie ein Schlaganfall verschiedene Auswirkungen haben, beispielsweise, dass Betroffene die Sprache nicht mehr verstehen.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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