«Die Liebe zählt, nicht meine Lähmung»

Von Danica Gröhlich, 24. August 2022

Wie er die Welt sieht: Simon Hitzinger sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl. (Richard Zihlmann)

Sinnsuche, Selbständigkeit und Sexualität sind für ihn kein Tabu: Ganz offen erzählt Simon Hitzinger (29) von seiner Querschnittlähmung und über das Leben im Rollstuhl.

«Seit meinem Sturz aus 12 Metern Höhe vor elf Jahren vergeht kein Tag ohne Schmerzen.» Dennoch hat der inzwischen 29-jährige Basler Simon Hitzinger einen Weg gefunden, damit umzugehen. Wie der Paraplegiker düstere Gedanken vertreibt, welche Hindernisse er täglich überwinden muss und was ihm geholfen hat, eine neue Sicht aufs Leben zu erhalten.

Herr Hitzinger, was ist damals genau passiert?
Ich habe mit einem Freund eine grosse Party besucht. Da habe ich mich laut weiteren Anwesenden auf das Geländer des Balkons gesetzt, mich an einem dort angebrachten Stoff-Banner angelehnt. Dieses ist gerissen und ich stürzte 12 Meter in die Tiefe. Ich selbst weiss nichts mehr vom Unfall. Als ich im REHAB Basel, eine spezialisierte Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie, wieder zu mir kam, wusste ich lange nicht, wieso ich eigentlich hier bin. Doch die Diagnose war eindeutig: komplette Lähmung vom Brustkorb abwärts. Ich hatte sechs gebrochene Rückenwirbel, drei gebrochene Rippen, ein gebrochenes Brustbein, eine grosse Wunde am Kopf sowie ein Schädelhirntrauma.

Seit 2011 haben Sie vom Unterleib her tagtäglich Schmerzen. Wie lässt sich dies trotz Querschnittlähmung erklären?
Tatsächlich vergeht seit dem Unfall kein Tag ohne Schmerzen. Mein Gesäss und die Unterseite der Oberschenkel brennen, sobald ich sitze. Mein Steissbein sticht, sobald ich sitze. Und jedes Mal, wenn ich katheterisieren muss, also etwa fünfmal täglich einen Schlauch durch die Harnröhre einführen muss, habe ich dabei richtig starke Schmerzen im Penis und in der Blase. Dies lässt sich so erklären, dass mein Rückenmark nicht vollständig durchtrennt ist und deshalb gewisse Schmerz- Signale wohl noch weitergeleitet werden. Ausserdem kann es sein, dass die Hirnblutung, die ich hatte, die Schmerzen noch verstärkt.

Auch mit einer sogenannten Spastik haben Sie zu kämpfen.
Ja, zu den täglichen Schmerzen kommt eine starke Spastik, was bedeutet, dass meine Beine und mein Bauch zucken, sich strecken, beugen und schütteln, ohne dass ich einen Einfluss darauf habe. Zwei Drittel meines Körpers bewegen sich also unkontrolliert, was mich sicher in 90 Prozent der Fälle in meinem Alltag sehr stört.

Simon Hitzinger, Fotograf, Basel (Jos Schmid)

Können Sie trotzdem selbständig leben und reisen?
Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich 17 Jahre alt. Nach der Rehabilitation bin ich gleich in eine eigene Wohnung gezogen und lebe seither alleine und bin auf keine Spitex angewiesen. Mein grösstes Ziel damals war es, wieder selbstständig zu sein. Das habe ich tatsächlich geschafft, ich kann alleine leben. Ich hatte vor dem Unfall jahrelang das Generalabonnement und wollte auch im Rollstuhl diese Freiheit geniessen. Jedoch ist spontanes Einsteigen in einen Zug und Wegreisen, wohin man gerade Lust hat, im Rollstuhl mit dem Schweizer ÖV nicht möglich – besonders nicht vor 10 Jahren. Bis jetzt habe ich kein Auto, weil ich mitten in der Stadt wohne. Für die Zukunft ist es aber ein Muss. Auch Ferien sind einiges schwieriger als zuvor. Denn rollstuhlgängige Zimmer mit passendem Badezimmer sind auf der ganzen Welt Mangelware. Mit intensiver Vorbereitung und Abklärung sowie ein wenig Abenteuerlust wird der Urlaub dann aber schon möglich und auch gut.

Wie sieht Ihr Alltag aus und welche Hindernisse müssen Sie noch überwinden?
Mein Alltag ist sehr unterschiedlich, je nach körperlicher Verfassung und Schmerz-Stärke. Es gibt aktive Wochen und solche, in denen ich so gut wie nichts machen kann, weil die Schmerzen einfach zu stark sind, um überhaupt ruhig sitzen zu können. Wenn es mir körperlich besser geht, fotografiere ich viel, arbeite bei der Non-Profit-Plattform für Kunst Keiyo Art und bin oft mit dem Handbike unterwegs, einem Fahrrad, das ich allein mit den Armen bewegen kann. Deshalb sind regelmässige Physio-Therapie und Kraft-Training sehr wichtig für mich, damit ich meine Muskeln erhalte und so möglichst lange beweglich und selbständig bleiben kann. Es gibt jedoch noch Millionen von Hindernissen, jede Stufe ist ein Hindernis. Aber es kommt immer darauf an, worauf ich mich fokussiere.

Tauchten nach Ihrem Unfall auch düstere Gedanken auf?
Es gab sehr viele düstere Gedanken nach dem Unfall und, wenn die Schmerzen stark sind, gibt es sie auch heute noch. Mir hat vor allem Meditation geholfen, damit umzugehen. Und natürlich meine Freunde, die Liebe oder kleine Abenteuer, welche mir mein Leben lebenswert machen und mir helfen, die Schmerzen auszublenden und so auch auszuhalten. Denn der Schmerz sucht seinen Ausgleich in den schönen Erfahrungen des Lebens. Wenn der Schmerz überwiegt, wird es schwierig. Leider kenne ich bis jetzt noch kein Schmerzmittel, das helfen würde ohne gleich abhängig zu machen.

Und was hat sich privat verändert?
In der Partnerschaft und Sexualität hat sich einerseits nichts und andererseits doch sehr viel verändert. Eine Partnerschaft sind zwei Menschen, die sich lieben. Da spielt eine Lähmung oder ein Rollstuhl keine Rolle. Bei der Sexualität sind natürlich nicht mehr die gleichen Bewegungen möglich wie früher, und mein Orgasmus und die Ejakulation bleiben meist auch aus. Aber schön ist es trotzdem. Gewisse Berührungen spüre ich und es geht dann vielleicht einfach mehr um die Partnerin und das Gefühl von Liebe.

Können Sie dem Unfall auch etwas Positives abgewinnen?
Ohne diesen Unfall wäre ich wohl nie zur Fotografie gekommen. Sie ermöglicht mir, eine ganz neue Sicht aufs Leben zu bekommen. Und ohne den Unfall hätte ich mich mit 17 Jahren nicht bereits mit den Grund fragen unseres Daseins auseinandersetzen müssen. Dies war sehr lehrreich und ich möchte es nicht missen. Aber, wenn ich ehrlich bin, würde ich diese leidvolle Erfahrung sofort hergeben, um weniger Schmerzen zu haben und wieder auf eigenen Beinen stehen und gehen zu können.


Gut zu wissen

Bei Paraplegikerinnen und Paraplegikern ist die untere Körperhälfte, also Beine, Gesäss, Bauch- und der untere Brustbereich, von der Querschnittlähmung betroffen. Die Verletzung liegt hier im Bereich der Brust- oder Lendenwirbel oder weiter unten im sogenannten Sakralbereich. Menschen mit einer Paraplegie haben in den Armen keine Einschränkungen. Bei einer Tetraplegie liegt die Verletzung des Rückenmarks bereits im Halswirbelbereich. Neben den Beinen und dem gesamten Rumpf sind von der Lähmung auch die Arme und Hände betroffen. Rückenmarkverletzungen führen zudem zu anderen Fehlfunktionen, da die versorgenden Nerven ebenfalls im Rückenmark verlaufen. So sind bei Verletzungen oberhalb des 6. Brustwirbels das autonome Nervensystem mitbetroffen. Unabhängig von der Verletzungshöhe sind häufig auch die Blasen-, Darm- und Sexualfunktion beeinträchtigt. Denn die Nerven, welche diese Funktionen steuern, treten ganz unten aus der Wirbelsäule aus.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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