ADHS bei Erwachsenen: Ständig unter Strom

Von Danica Gröhlich, 10. August 2022

Kanalisieren und Fokussieren: So können Erwachsene mit ADHS ihre Fähigkeiten gezielt einsetzen. (iStock)

Sind Sie ungeduldig, müssen immer in Bewegung bleiben oder wollen als Frau allen helfen? Wie vielfältig sich ADHS äussert, was der ideale Job wäre und wann Betroffene zur Ruhe kommen.

«Menschen mit ADHS lassen sich häufiger scheiden und wechseln auch öfters die Stelle.» Warum ein Leben mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, das mit oder ohne Hyperaktivität auftreten kann, zuKonflikten führt, weiss Psychiaterin Dr. Ursula Davatz. Die 80-Jährige berät noch immer fast täglich Betroffene und ist Vizepräsidentin von adhs20+ in Zürich, der Schweizerischen Info- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS.

Frau Dr. Davatz, zeigt sich denn ADHS bei Erwachsenen anders?
Bekanntlich zeichnet sich ADHS im Kindesalter vor allem durch Hyperaktivität aus. So stören diese Kinder den Schulunterricht, weil sie einfach nicht stillsitzen können. Im Erwachsenenalter werden sie dann eher hyperaktiv im Kopf. Sie haben einen Gedanken-Sturm, alles prasselt gleichzeitig auf sie ein. Buben haben ihre Hyperaktivität weniger gut unter Kontrolle, während Mädchen sich besser anpassen. Später zeigt sich oft eine Zerstreutheit, wenn Betroffene etwa ständig den Schlüssel verlegen oder verschiedene Dinge anfangen, aber nicht beenden.

Versuchen Betroffene auch, sich nichts anmerken zu lassen?
Ja, wenn Menschen mit ADHS sehr intelligent sind, können sie ihr Syndrom gut kaschieren, sei es in der Schule oder dann im Studium. Um in unserem System zu funktionieren, kostet sie das allerdings tagtäglich sehr viel Energie. So folgt dann früher oder später der Zusammenbruch. Sie geraten in ein Burnout, eine Erschöpfungsdepression. Erst dann stellt sich oft heraus, dass hier eigentlich ein ADHS vorliegt. Auch Suchtkrankheiten können darauf hindeuten. Oder sie werden zwanghaft, entwickeln beispielsweise einen Kontroll-Zwang. Denn so versuchen sie, ihre Vergesslichkeit, das Zuspätkommen oder Verpassen eines Termins zu kompensieren.

Dr. med. Ursula Davatz, Psychiaterin und Vizepräsidentin von adhs20+ (zVg.)

Dann wird ADHS noch oft erst im Erwachsenenalter festgestellt?
Da ADHS inzwischen auch in den Medien immer häufiger ein Thema ist, fragen sich natürlich viele, ob sie das auch haben und lassen es abklären. Tatsächlich kommt es häufig erst über die eigenen Kinder ans Licht, wenn diese in der Schule Probleme bekommen. Denn ADHS wird nicht erworben, sondern vererbt. So handelt es sich bei ADHS im Kern um ein genetisch bedingtes, neurobiologisches Syndrom. Diagnostiziere ich bei einem Kind ADHS, schaue ich zurück und sehe die Anzeichen bereits bei dessen Grosseltern. Ich muss die Hilfesuchenden nur fragen: «Hirnen Sie?» Und sofort kommt die Antwort: «Ja, mir gehen immer tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf!» Denn oft wird eine innere Hyperaktivität übersehen. Kam früher nur ein Mädchen auf fünf Buben, weil es ja äusserlich ruhig schien, so rechnen wir heute mit einem Mädchen auf anderthalb Buben.

Also steigt die Anzahl ADHS-Betroffener?
Dazu gibt es verschiedene Statistiken, die meist anhand der Anzahl verschriebener ADHS-Medikamente erstellt werden, oft ein Index von Ritalin, dem am häufigsten eingesetzten Mittel bei ADHS. In südlichen Ländern werden weniger Fälle erfasst. Ebenso bei uns im Tessin. Doch inzwischen wissen wir, dass dieses «südländische Temperament» eigentlich ein ADHS ist. Nur im Schulunterricht ist ein Aufmerksamkeitssyndrom natürlich nicht hilfreich, wenn der Lehrer merkt, dass das Kind nicht bei der Sache ist, sich leicht ablenken lässt oder lieber aus dem Fenster schaut. Ich ziehe aber die Bezeichnung «breite Aufmerksamkeit» vor. Kreativität und Erfindergeist gehen damit einher. So sind Menschen mit ADHS früher wohl eher ausgewandert und haben etwa in Amerika ein neues Leben begonnen.

Welche Schwierigkeiten haben Betroffene im Beruf, aber auch im Privatleben?
Häufig treten Menschen mit breiter Aufmerksamkeit als Wissenschaftler sowie Unternehmer in Erscheinung. Gleichzeitig sind sie jähzornig und impulsiv. Werden Betroffene etwa in eine Ecke gedrängt, dann knallt es. Frauen mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom dagegen trauen sich nicht viel zu, haben meist negative, und damit hinderliche, Gedanken. Betroffene sind hochsensibel. Doch während Frauen sich eher zurückziehen, werden Männer schnell aggressiv. So neigen Männer im Extremfall zu Delinquenz, Frauen eher zu Depression. In jungen Jahren entwickeln Betroffene auch bipolare Störungen. So sehe ich in meiner Praxis beinahe täglich Frauen mit einer emotional instabilen Borderline-Persönlichkeitsstörung, und ich weiss sofort, dass sie eigentlich ihr ADHS unterdrücken. Weil sie ihren Fokus nicht finden, vergeuden sie sehr viel Energie. Zudem sind betroffene Frauen sehr empathisch und wollen allen helfen – bis hin zur Erschöpfung. Häufig sind sie in sozialen Berufen zu finden, oder sie studieren Medizin. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass sie ausgenutzt werden.

Was wäre denn ein ideales Umfeld?
Für ADHS-Betroffene ist eine Arbeitsstelle förderlich mit viel Eigenverantwortung, um sich entfalten zu können. Gleichzeitig aber dennoch eine feste Struktur mit klarer Führung. Männer mit ADHS äussern jedoch alle den Wunsch eines eigenen Geschäftes und der eigene Chef sein zu wollen. Können Frauen etwas Eigenes erschaffen, werden sie oft Schriftstellerinnen oder Künstlerinnen.

Und wie sollte die Partnerin oder der Partner damit umgehen?
In Familien mit ADHS kommt es zu mehr Konflikten. Doch ADHS legt Verhaltensweisen an den Tag, die ich als Partnerin oder Partner nicht ändern kann. Wichtig ist auf jeden Fall, sich nicht gegenseitig erziehen zu wollen, sondern offen zu sagen, was einem stört. ADHS wird immer zu einer grossen Belastungsprobe. Deshalb sollten gemeinsam gute Konfliktbewältigungsstrategien entwickelt werden. Wichtig für Betroffene ist auch ein Hobby wie Musik oder Sport, um einen eigenen persönlichen Fokus zu haben. Und damit meine ich nicht einfach «nur» Yoga, um herunterzufahren, sondern etwas, was einen fasziniert und woran man arbeiten kann. Deckt sich dieses Hobby auch noch mit dem Beruf, dann hat man natürlich Glück. Frauen mit ADHS muss ich zusätzlich bestärken, dass sie sich eine Beschäftigung suchen sollen, welche niemand anderem etwas nützt.

Wer nicht ins System passt, wird mit Medikamenten passend gemacht?
Viele Erwachsene mit ADHS nehmen Ritalin nur noch, wenn sie ihre Steuererklärung ausfüllen oder sonst etwas Langweiliges machen müssen. Wer regelmässig ein Hobby pflegt, ein Instrument spielt und Joggen geht, schafft es, seine Energie zu kanalisieren. Ich halte es da wie die Japaner und versuche, nicht in die Natur einzugreifen und den Menschen verändern zu wollen, sondern so zu lassen wie er ist – mit all seiner breiten Aufmerksamkeit.


Habe ich ADHS?

Haben Sie den Verdacht, dass Sie ADHS haben könnten, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperkinetisches Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität? Weitere mögliche Symptome von ADHS bei Erwachsenen sowie einen ADHS-Test und hilfreiche Informationen finden Sie auf:
www.adhs20plus.ch.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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