«Ich fühle mich endlich wohl in meinem Körper»

Interview Jeanne Fürst und Danica Gröhlich, 23. Juni 2022

Petra Casagrande arbeitet in einer Schreinerei und spricht für «Gleichgeschlechtliche Liebe leben» (GLL) vor Schulklassen.

Frau und Mann zugleich: Genderfluide Menschen haben ein «fliessendes» Geschlecht. Wie befreiend die Entfernung der Brüste war, sagt Petra Casagrande.

Petra Casagrande, wie möchten Sie angesprochen werden?
Biologisch bin ich eine Frau, das wird so bleiben. Im Freundeskreis bin ich noch die Petra. Vielleicht werde ich mir aber einen für beide Geschlechter passenden Vornamen aussuchen.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie beide Geschlechter in sich tragen?
Im Schulprojekt «Gleichgeschlechtliche Liebe leben» erzähle ich diese Kurzversion: 1968 kam ich als Mädchen zur Welt, tobte aber meist mit Buben im Wald herum und spielte Eishockey. Schon damals wurde ich oft für einen Jungen gehalten, was mich nicht störte. Doch in der Pubertät interessierten mich Mädchen stärker. Dennoch hatte ich mit Männern wunderbare Beziehungen. Den zweiten, sehr feingliedrigen Mann heiratete ich und wurde Mutter von zwei Mädchen. Plötzlich waren Fragen der eigenen Geschlechteridentität wieder präsent. Als meine Suche anfing, waren die Kinder vier und ein Jahr alt. Mit 30 outete ich mich gegenüber meinem Mann. Seit 24 Jahren lebe ich Frauenbeziehungen. Ich dachte, ich hätte meinen Platz in der gleichgeschlechtlichen Liebe gefunden, passte aber nicht hinein. Meine Odyssee ging weiter. Ich fragte mich vor dem Spiegel: «Wer bin ich eigentlich?» Meine Brüste störten mich zunehmend. Sie waren wie eine Jacke, die mir nicht gehört, für die ich aber Komplimente erhielt.

Liessen Sie sich deshalb die Brüste entfernen?
Jeden Sommer störten mich die Blicke auf meine grosse Oberweite. Im Dezember 2021 warf ich meinen «Ballast» ab und liess die Brüste entfernen. Der erste Sommer «oben ohne» ist befreiend. Es passt jetzt alles zu meiner sportlichen Figur und tiefen Stimme. Hormone nehme ich keine. Genderfluide Menschen sind nicht nur ein Geschlecht. Der Typ in mir ist 40 Jahre lang mit Brüsten herumgelaufen.

Wie waren die Reaktionen in Ihrem Umfeld?
Mit meinen Kindern habe ich offen darüber gesprochen. Sie unterstützen mich. Ich werde immer ihr Mami sein. Meine Eltern hatten Sorge, ich könnte den Schritt bereuen. Mein Vater findet nun sogar, es sieht gut aus. Auch die Frau, mit der ich seit fünf Jahren lebe, ist geblieben. Ihre Angst, ich könnte mich verändern, war unbegründet. Ich fühle mich endlich wohl, habe ein besseres Körpergefühl, bin sicherer und kein Sexobjekt mehr. Auch eine extreme Erleichterung: Ich gehe wieder aufrecht. Unterwegs werde ich das Männer-WC benutzen, um die Menschen nicht zu brüskieren.

Ihre Zukunftswünsche?
Mehr Menschen sollten mit sich selbst zufrieden sein, dann müssten sie nicht ständig auf andere schauen. Daher rate ich: Seid einfach nett zueinander, und habt den Mut, euer eigenes Leben zu leben.

 

 

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