«Ein neues Leben dank Medikamenten»

Interview Jeanne Fürst und Danica Gröhlich, 19. Mai 2022

160 Menschen in der Schweiz leiden an einem hereditären Angioödem. Was diese seltene vererbbare Krankheit so gefährlich macht, sagt der Immunologe Urs Steiner.

Herr Steiner, was ist ein hereditäres Angioödem?
Bei dieser Erbkrankheit kommt es wiederholt zu Schwellungen des Gewebes. Ein Genfehler führt dazu, dass die Blutgefässe durchlässiger werden und vermehrt Flüssigkeit in die Haut und Schleimhaut austritt. Es kommt zu Schwellungen, Ödemen. Schwellungen der Darmschleimhaut treten am häufigsten auf, dann an den Beinen und Armen sowie im Gesicht. Seltener schwellen die Schleimhäute im Hals an. Ödeme können unterschiedlich häufig auftreten, zwei- bis dreimal pro Jahr oder mehrmals in der Woche. Auslöser können Stress oder Infektionen sein. Auch mechanische Reizungen wie ein Zahnarztbesuch, lange Wanderungen oder wenn Betroffene sich anstossen. Angioödeme können auch isoliert auftreten, etwa nur in der Darmschleimhaut. Dort dann mit heftigen Bauchkrämpfen.

Wann tritt die erste Schwellung auf?
Die Wahrscheinlichkeit, das defekte Gen an die Kinder weiterzugeben, beträgt 50 Prozent. Die ersten Symptome treten im Durchschnitt im Alter von elf Jahren auf. Knaben und Mädchen sind gleichermassen betroffen. Allerdings leiden Frauen häufiger an den Angioödem-Attacken, vermutlich aufgrund ihrer Hormone. Eine Attacke baut sich über mehrere Stunden auf, hält bis zu vier Tage an und verschwindet spontan. Tritt dieSchwellung im Gesicht oder an der Hand auf, sind Betroffene oft nicht mehr arbeitsfähig. Schwellungen der Halsschleimhaut können zum Erstickungstod führen. Weltweit ist etwa eine von 50 000 Personen betroffen. In der Schweiz 160 Menschen.

Urs Steiner ist Leitender Arzt in der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich.

Kann man das hereditäre Angioödem mit anderen Erkrankungen verwechseln?
Da es oft starke Bauchschmerzen verursacht, kann es mit einer Entzündung des Blinddarms oder der Gallenblase verwechselt werden und zu unnötigen Operationen führen. Auch Mastzellen, die etwa bei Allergien aktiviert werden, schütten Stoffe aus, die die Gefässdurchlässigkeit erhöhen und Schwellungen verursachen. Beim hereditären Angioödem kann man das durch die Genmutation defekte Protein im Blut bestimmen.

Eine Heilung gibt es nicht?
Nein, noch nicht. Mit Medikamenten lässt sich ein hereditäres Angioödem aber gut behandeln. Die Medikamente können bei akuten Attacken oder auch als Prophylaxe eingesetzt werden. Es gibt die Möglichkeit, das defekte Eiweiss zu ersetzen. Neuere Medikamente hemmen Eiweisse, die an der Entstehung der Schwellungen beteiligt sind. Sie wirken zum Teil so gut, dass Betroffene bis zu 80 Prozent weniger Attacken bekommen und beschwerdefrei werden. Diesen Menschen wird dadurch ein neues Leben geschenkt.

 

 

Empfehlen Sie diesen Beitrag weiter: