«Jeder Tropfen ist kostbar»

Interview Jeanne Fürst und Danica Gröhlich, 31. März 2022

(Symbolbild: iStock)

Die Vormilch der Mutter ist Gold wert. Warum Kolostrum so wichtig für das Baby ist und was das fürs Stillen bedeutet, sagt die Hebamme Norina Wartmann.

Frau Wartmann, was genau ist Kolostrum?
Kolostrum wird die eher dickflüssige, goldgelbe Vormilch genannt, die ab ungefähr der 20. Schwangerschaftswoche bis zum 5. Tag nach der Entbindung produziert wird. Der Übergang zur reifen Muttermilch ist fliessend.

Warum ist Kolostrum so wertvoll für das Baby?
Kolostrum hat nicht nur eine etwa dreimal so hohe Konzentration an Proteinen wie reife Muttermilch. Es ist auch besonders reich an Mineralstoffen, Vitaminen und sogenannten Immunglobulinen. Diese Antikörper belegen die Schleimhaut der Atemwege und kleiden den Magen-Darm-Trakt des Babys aus. Sie schützen das Neugeborene so vor Krankheiten, welche die Mutter bereits durchgemacht hat. Die Vormilch fördert ausserdem das Wachstum von Lactobacillus bifidus und sorgt mit diesem Bakterium für die Entwicklung einer gesunden Darmflora des Neugeborenen. Diese ist wichtig für das Immunsystem des Babys, um Infektionen auch selbst bekämpfen zu können.

Ist es sinnvoll, Kolostrum bereits vor der Geburt zu sammeln?
Beim Stillen gilt das Prinzip: Die Nachfrage regelt das Angebot. Je mehr die Brust also stimuliert und entleert wird, desto mehr Muttermilch wird produziert. Um den Stillstart für Mutter und Kind zu erleichtern, kann ungefähr fünf Wochen vor dem Geburtstermin damit begonnen werden, die Brust auf die Stillzeit einzustimmen. Dabei wird die Brust massiert und anschliessend Kolostrum ausgestrichen. Die Gewinnung und Lagerung bezeichnen wir als Kolostrum-Banking. Das gewonnene Kolostrum kann in Spritzen, in speziellen Sammel-Sets oder in einem sterilisierten Gläschen im Tiefkühlfach drei Monate lang aufbewahrt werden.

Norina Wartmann ist diplomierte Hebamme für Hausgeburten, Beleghebamme und Mutter.

Wäre das Sammeln für alle Schwangeren wichtig?
Grundsätzlich ist das Kolostrum-Banking für alle Frauen geeignet, die ihr Kind gerne stillen möchten. Besonders empfehlenswert ist das Sammeln bei Schwangerschafts-Diabetes, um beim Baby eine Unterzuckerung zu vermeiden, bei Zwillingen, die oft früher und mit geringerem Geburtsgewicht auf die Welt kommen, und auch bei kleinen Kindern. Jeder Tropfen Kolostrum ist kostbar, denn bereits ein Milliliter ist am Tag der Geburt eine komplette Mahlzeit für das Baby. Gerne erklärt die Hebamme die Brustmassage und das Ausstreichen von Muttermilch per Hand.

Wenn eine Frau dies nicht schafft, kann sie später trotzdem stillen?
Auch wenn ich das Kolostrum-Banking von Herzen empfehlen kann, ist es wichtig, dass eine Frau sich damit wohlfühlt. Und zur Beruhigung: Eine Frau kann natürlich auch ohne Stillvorbereitung erfolgreich stillen.

 

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