Placebo-Effekt: Die Macht der Worte

Von Danica Gröhlich, 17. November 2021

Negative Erwartungen: Wenn der Beipackzettel krank macht. (iStock)

Früher als Humbug belächelt, heute als Heilmittelverstärker bestätigt: Wie wir den Placebo-, aber auch Nocebo-Effekt für unsere Gesundheit nutzen können.

Herr Dr. Krummenacher, reicht für den Placebo-Effekt die Einnahme einer «Wunderpille»?
Ein Placebo-Effekt kann auf unterschiedliche Art und Weise eintreten. Eine positive Erwartungshaltung und der Glaube an die Wirksamkeit sind ganz zentral. Frühere positive Lernerfahrungen unterstützen den Effekt ebenfalls, etwa ein Bericht über ein bestimmtes Medikament oder ich nehme ein Schmerzmittel ein, das mir bereits einmal geholfen hat. Ein weiterer wichtiger Faktor ist eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation. Die wirkt ebenfalls bei allen medizinischen Behandlungen mit. Deshalb wird inzwischen der Begriff Placebo längst nicht mehr abwertend gebraucht und kann täuschungsfrei als Medikamentenverstärker zum Wohle des Patienten eingesetzt werden.

Was passiert denn im Körper, um eine Reaktion zu erzielen?
Es existieren verschiedene messbare Placebo-Effekte. Das Gehirn macht aus Worten Chemie. Die positive Erwartungshaltung löst biochemische Reaktionen im Körper aus, welche Selbstheilungsprozesse aktivieren. Die körpereigene Apotheke wirkt bei gewissen Erkrankungen oft ähnlich potent wie ein Medikament. Erwarte ich beispielsweise eine Schmerzlinderung, so werden schmerzlindernde Stoffe ausgeschüttet und der Schmerz kann bereits im Rückenmark gedämpft werden. Wir können also unsere Gesundheit mit der Erwartungshaltung aktiv beeinflussen.

Dr. sc. ETH Peter Krummenacher, Gründer von brainability GmbH, Zürich; www.brainability.ch (zVg.)

Wirkt ein Placebo bei allen?
Der Placebo-Effekt wirkt bei den Menschen besser, die eher optimistisch sind, auf positive Lernerfahrungen zurückgreifen können oder von anderen Menschen oder Vorbildern hören, bei denen es gewirkt hat. Wer zudem eher auf Belohnung reagiert, ist empfänglicher. Erwarte ich eine Schmerzlinderung, wirkt bereits die Vorstellung davon wie eine Belohnung. Dabei werden der Nervenbotenstoff Dopamin und körpereigene Opioide ausgeschüttet, was einen schmerzlindernden Effekt hat. Umgekehrt wird der Effekt eher verhindert, wenn sich jemand übertrieben sorgt, sehr ängstlich und pessimistisch ist. Die Vorstellungskraft von Kindern ist übrigens stärker ausgeprägt. Sie sind empfänglicher für spielerische Metaphern und haben weniger Vorurteile. Sie lassen sich aktiv beeinflussen, etwa mit Heldengeschichten. Hat sich das Kind in den Finger geschnitten, hilft ein Pflaster mit angeblichen Zauberkräften. Kinder merken anhand der Mimik und Gestik ihres Umfeldes sehr schnell, wenn etwas nicht stimmt. Deshalb sollte Ernstes nicht verharmlost werden.

Wie sollte generell die ärztliche Kommunikation sein?
Der Patient muss klar im Mittelpunkt stehen, wie sie die sogenannte Patientenzentrierte Medizin fordert. Von ärztlicher Seite sind Mitgefühl, Verständnis und das Schaffen von Vertrauen wichtig. Botschaften sollten klar und ohne unnötigen Fachjargon vermittelt werden. So könnte, beispielsweise bei einem Medikament, der Nutzen betont werden: «Bei regelmässiger Einnahme verschwinden nicht nur die Schmerzen. Sie können auch wieder mit Ihren Enkelkindern spielen.» Zudem hilft eine positive Formulierung. Statt: «5 Prozent haben unangenehme Nebenwirkungen », wäre es besser zu sagen: «95 Prozent meiner Patienten vertragen dieses Medikament sehr gut.» Der Patient muss zwar aufgeklärt werden. Eine Frage zu Beginn könnte die Situation aber vereinfachen: «Sind Sie einverstanden, wenn ich Ihnen nur das Wichtigste sage?» Ziel ist es, eingebildete Risiken und Angst vor Nebenwirkungen gezielt einzudämmen, positive, aber realistische Erwartungshaltungen zu erzeugen und besser zuzuhören. Eine solche Kommunikation müsste bereits im Medizin-Studium beginnen und im Spital kulturell verankert werden. Es kommt zu mehr Komplikationen, wenn Ängste im Spiel sind. Ein gutes Aufklärungsgespräch vor der Operation kann Folgekosten sparen und die Genesung fördern. Auch gesundheitspolitisch sollte sich etwas ändern. Krankenkassen und der Bundesrat müssten mitmachen. Mit der passenden Wortwahl lassen sich Kosten und Nebenwirkungen reduzieren und Genesung und Wohlbefinden steigern. Hören wir: «Keine Angst, das tut nicht weh!», so bleiben bei uns oft nur die Worte «Angst» und «weh» hängen. Auch negative Erwartungen, dass ein Medikament schaden könnte, haben eine direkte Wirkung. Dann tritt der sogenannte Nocebo-Effekt ein.

Was bewirkt der Nocebo-Effekt?
Nicht nur bereits vorhandene Symptome werden verstärkt. Bin ich eigentlich gesund, können negative Erwartungen sogar Symptome wie einen Ausschlag auslösen. Mehr noch – selbst ein Opioid, also ein erprobtes, hochpotentes Schmerzmittel, kann eine negative Haltung zunichte machen. Dies ist ebenfalls messbar. Erwarte ich zum Beispiel Schmerzen, wird das dafür zuständige System im Gehirn aktiviert und Botenstoffe ausgeschüttet, sodass ich tatsächlich Schmerzen stärker erlebe. Der Nocebo-Effekt ist sozial ansteckend. Denken Sie nur an eine Massenhysterie. Auch eine negative Berichterstattung oder «Dr. Google» steigern den Effekt. Besonders bei belasteten, ängstlichen Personen und bei solchen, die jede kleinste Veränderung ihres Körpers beobachten. Dagegen hilft eine empathische und wertschätzende Kommunikation, ein gutes Aufklärungsgespräch und alles, was Sicherheit vermittelt und entspannt.

Und ohne vorher den Beipackzettel zu lesen?
Pharma-Firmen müssen aus juristischen Gründen alle Nebenwirkungen auflisten. Mit dem Wissen möglicher Nebenwirkungen steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Nebenwirkung auftritt. Inzwischen gibt es auch «Packungsbeilagen light» mit einem weiterführenden Internet-Link. Fragen Sie Ihren Arzt, was für Sie wichtig und relevant ist. Denn «Sehr seltene Nebenwirkungen » heisst: weniger als eine von 10’000 Personen – 9‘999 haben also nichts gespürt.

Nehmen Nocebo-Effekte seit der Covid-Pandemie zu?
Stress durch gesundheitsbezogene Ängste erhöht das Risiko. Dazu laufen einige Studien. Impf-Komplikationen könnten tatsächlich mit der Häufigkeit negativer Berichte ansteigen und mit der Erwartung von Nebenwirkungen zunehmen. Auch ein Einstich kann dadurch plötzlich als schmerzhafter erlebt werden. Zuvor wurden Covid-Impfstoffe mit sogenannten Leerpräparaten getestet. Ein Drittel der Kontrollgruppe hatte trotzdem typische Nebenwirkungen. Dies zeigt eindrücklich den Nocebo-Effekt. Die Folgen von Angst haben also eindeutig messbare körperliche und psychische Effekte.

Wir kommen bereits kurz und schmerzlos zur letzten Frage: Was können wir selbst für eine erfolgreiche Therapie tun?
Wir sollten unsere Gesundheitskompetenz steigern. Es braucht Patienten, die mitdenken, mitreden und mitentscheiden. Sprechen Sie Ihre Verunsicherung beim Arzt direkt an. Holen Sie sich notfalls eine Zweitmeinung ein. Stärken Sie Ihren inneren Gesundheitslotsen. Wir können lernen, ohne Zutun Dritter unsere Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Unsere Widerstandskräfte und Selbstwirksamkeit können mit allem gesteigert werden, was einem hilft. Alles, was ich positiv bewältigt habe und aktiv beeinflussen kann, hilft auch der Genesung und trägt zur Selbstheilung bei. So leisten Sie Ihren Beitrag. Bleiben Sie entspannt und denken Sie realistisch zuversichtlich.

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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