Endlich aufatmen: Entlastung für Angehörige

Von Danica Gröhlich, 20. Oktober 2021

Weniger Sorgen: Der Entlastungsdienst Schweiz hilft bei der Betreuung. (Symbolbild / Entlastungsdienst Schweiz / Fabio Barranzini)

Oftmals ist die Familie überfordert und schafft es nicht mehr, ihre betagten Liebsten zu Hause zu betreuen. Wie der Entlastungsdienst hier helfen kann.

«Jetzt haben wir wieder ein normales Leben», erzählt Doris Hänni. Die 61-Jährige ist äusserst dankbar, dass sie wieder mehr Zeit für sich und ihre Enkelkinder hat. Rückblickend muss sie sich eingestehen, dass die Betreuung ihrer Eltern – beide 83 Jahre alt – doch sehr belastend war, obwohl sie scheinbar alles im Griff hatte.

Doch dann kam der Tag, an dem sich alles änderte: Die Mutter erleidet einen Schlaganfall. Seither sitzt sie im Rollstuhl. Eine Betreuung daheim ist nicht mehr möglich. Seit gut zwei Monaten lebt sie nun in einem Pflege heim. Der Vater dagegen ist noch recht selbständig. Hänni und ihre beiden Brüder mussten sich neu organisieren. Da sie alle in der Nähe des Elternhauses im Kanton Bern wohnen, wechseln sie sich ab, wenn es darum geht, den Rasen zu mähen, Einkäufe zu erledigen oder den Vater zu Arztterminen zu begleiten.

Ein Heim kam nie infrage

«Vorher war es vor allem für unseren Vater eine schwierige Situation. Er hat sich praktisch 24 Stunden lang um unsere Mutter gekümmert », erzählt Doris Hänni. Beklagt habe er sich aber nie. «Es ging ja schon immer irgendwie.» Er selbst habe eine schwere Krankheit, war deswegen oft im Spital und die Mutter allein zu Hause. Eine zusätzliche Belastung für alle. Inzwischen seien sie besser organisiert und der Vater könne endlich auch Hilfe von aussen annehmen. So habe er dreimal pro Woche einen Mahlzeitendienst, wodurch er sich sein Essen nur noch aufwärmen muss. Und alle zwei Wochen kommt jemand vom Entlastungsdienst Schweiz. Eine gemeinnützige Organisation, die sich für eine gute Betreuung im Alter einsetzt.

Sie hätten definitiv zu lange gewartet, sagt Hänni. «Die Eltern gehören einer Generation an, die alles selbst machen will und vor allem niemanden zur Last fallen wollte. Deshalb haben wohl auch wir zu lange gezögert.» Ein Heim-Eintritt kam für die Kinder nie infrage. «Für mich war es selbstverständlich, mich um meine Eltern zu kümmern. Unsere Mutter hatte ihre Mutter ja auch daheim gepflegt. Zur Belastung für uns alle wurden dann aber die Notfälle», erklärt Hänni. Denn bis 80 seien die Eltern noch recht sportlich unterwegs gewesen. «Wir alle hatten nicht damit gerechnet, dass sich die Situation so plötzlich ändern würde», gesteht sie. Dann endlich sei sie für eine Beratung zur Pro Senectute gegangen, um vor allem die finanzielle Situation in den Griff zu bekommen. «Manchmal ist man einfach überfordert, wenn auf einmal alles zusammenkommt.»

Gespräche beim Spaziergang (Symbolbild / Entlastungsdienst Schweiz / Fabio Barranzini)

Den Entlastungsdienst Schweiz möchte inzwischen niemand mehr missen. «Eine aussenstehende Person, die frischen Wind hineinbringt, tut der ganzen Familie gut. Sie hilft meinem Vater beim Wäschewaschen. Jetzt ist er total happy! Das war allerdings ein langer Prozess. Wir mussten ihn zuerst überzeugen, jemand Fremden ins Haus zu lassen.»

Zuhören und Zeit geben

Doris Hänni ist selbst seit mehr als 10 Jahre beim Entlastungsdienst im Kanton Bern angestellt. Derzeit arbeitet sie rund sieben Stunden pro Woche, um mehr Freiraum für ihre Eltern und ihre Schwiegereltern zu haben. «Bei meiner Arbeit kann ich auf die Menschen und ihre Wünsche eingehen und ihnen Zeit geben.» Meist hilft sie auch beim Kochen, geht einkaufen oder begleitet die Person zu medizinischen Terminen. Der Entlastungsdienst hilft bei allem, was gerade anfällt, ausser bei der Pflege. «Wir reden auch viel oder hören einfach nur zu. Das ist sehr wichtig. Zudem sind wir nicht vorbelastet wie etwa ein Familienmitglied. Und wir haben Schweigepflicht. Das schätzen die betagten Menschen sehr. Dass sich jemand Zeit nimmt, auf sie eingeht und wissen will, was sie gerade beschäftig.»

Wo sie Kraft tankt

Wird die zweifache Entlastung schlussendlich nicht doch zur eigenen Doppelbelastung? Hänni verneint. «Ich kann mich bei anderen viel mehr abgrenzen. Mit der Zeit habe ich gelernt, was privat ist und, wann ich zur Arbeit gehe.» Schliesslich habe jede zu betreuende Person ja auch noch eine Familie, die da ist. Deshalb könne sie die Verantwortung quasi nach ihrer Arbeit wieder abgeben. Regelmässig besuche sie auch Weiterbildungen, bekomme so neue Impulse und habe regen Austausch mit Arbeitskolleginnen und -kollegen. «Meinem Mann gegenüber hatte ich aber manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich nach einem Anruf rasch zur eigenen oder eben einer fremden Familie fahren musste. Er hat aber viel Verständnis und kennt die Situation selbst von seinen Eltern her.»

Eine wichtige Stütze ist auch ihr Umfeld. «Vieles, das man so loswerden kann, ist dann auch nicht mehr so belastend. Zudem lese ich viel. Dabei kann ich richtig abschalten. Im Winter fahre ich Ski. Natürlich stellen mich auch die Grosskinder auf. Die beiden sind so herzig, so strahlend und voller Leben. Eine richtige Kraftquelle. Hier geht das Leben weiter. Und ich trage keine so grosse Verantwortung für sie, ich kann sie nach dem Hüten wieder abgeben», erklärt Hänni und lacht.

Rat für andere Angehörige

Aus eigener Erfahrung weiss Doris Hänni aber, dass in Familien oftmals zu spät über die Situation gesprochen wird. Ihr Ratschlag? «Im näheren Umfeld gibt es vielleicht auch Menschen, die mit der Person Zeit verbringen würden. Daran denkt man meist zu wenig.» Hänni ist überzeugt: «Je früher offen darüber gesprochen wird, desto mehr Hilfe erhält man auch.» In der Schweiz gibt es zudem viele Organisationen, die einem unterstützen, was aber «gäng» eine grosse Hürde sei, die zu überwinden sich aber lohne. Zudem wünscht sich Hänni mehr Anerkennung und Wertschätzung. Auch von der Politik. So arbeiten betreuende oder pflegende Angehörige immer noch gratis. Ein Platz im Alters- oder Pflegeheim käme viel teurer. Deshalb hofft Hänni, dass hierfür ebenfalls Geld fliessen würde. Auch, damit das Finanzielle nicht zu einer so grossen Sorge für Familien werde.

Und was wünscht sich Doris Hänni für ihre Zukunft? «Ich wünsche mir, dass wir unsere Eltern noch ein Weilchen haben werden und, dass wir alle möglichst gesund bleiben. Wir schauen einfach Schritt für Schritt, geniessen jeden Tag und lassen es auf uns zukommen. Dieses Wissen, dass wir Hilfe haben, entlastet sehr. Jetzt können wir wieder ein normales Leben führen.»


Danke für 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit

Jährlich werden insgesamt rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen geleistet. Ohne betreuende Angehörige wäre vieles undenkbar – in der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Darum stehen am 30. Oktober, dem Tag für pflegende und betreuende Angehörige, die Menschen im Fokus, die all dies möglich machen. Der Entlastungsdienst Schweiz (www.entlastungsdienst.ch) und weitere Organisationen wollen damit die Anerkennung für die Leistung betreuender Angehöriger fördern.

Geplante Aktionen und mehr Informationen:
www.angehoerige-pflegen.ch


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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