Von Danica Gröhlich, 25. August 2021
Die personalisierte Medizin weckt grosse Hoffnungen im Kampf gegen Krebs. Wie Proteine dabei helfen können, sagt einer der weltweit führenden Schweizer Forscher.
«Der Schlüssel für unsere Gesundheit sind Proteine», erklärt Dr. Ruedi Aebersold. Er ist emeritierter Professor für Systembiologie an der ETH und Universität Zürich. 2020 erhielt er den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist für die Mitbegründung und Weiterentwicklung der sogenannten Proteomik. Der neue Forschungszweig befasst sich mit der Untersuchung der Funktionen aller Proteine eines Organismus. Damit gilt diese Fachrichtung der Biologie als ein Grundstein für die personalisierte Medizin der Zukunft.
Herr Professor Aebersold, was fasziniert Sie so an den Proteinen, der Grundlage der Proteomik?
Proteine sind für mich so faszinierend, weil sie alle Funktionen in einem lebenden Organismus ausführen. Im Prinzip ist eine Zelle eine Einheit eines Lebewesens, ein kleiner Reaktor, in dem Tausende von chemischen Reaktionen gleichzeitig ablaufen. Und Proteine sind quasi die Arbeitstiere in einer lebenden Zelle. In Zellen von kranken Menschen sind diese Prozesse gestört und Proteine zeigen die gestörten Prozesse und Funktionen an. Das macht dieses Forschungsfeld so attraktiv für mich.
Einfach erklärt: Wie können die Informationen von Proteinen die personalisierte Medizin weiterbringen?
In einer Zelle, einem Organ oder einem Menschen mit einer Tumor-Erkrankung sind gewisse molekulare Prozesse verändert, welche durch Proteine durchgeführt oder gesteuert werden. Dabei ist die molekulare Ausprägung einer Krankheit, beispielsweise Lungenkrebs, in verschiedenen Patienten unterschiedlich. Die Messung der Proteine ermöglicht es, für Patienten individuell die beste und wirksamste Therapie aufzubringen. Dafür untersuchen wir zuerst die Konstellation der Proteine im Krebsgewebe, um dann die optimal Therapie auszuwählen. Diese Entwicklung ist wichtig, weil bislang Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten Krebserkrankung einheitlich behandelt wurden. Einige haben auf die Therapie angesprochen, andere aber nicht. Die Protein-Daten unterscheiden die Patienten, die auf eine Behandlung ansprechen und solche, die nicht darauf ansprechen.
Bislang wurde das Augenmerk vor allem auf Gen-Mutationen gelegt. Was ist der Unterschied?
Das Forschungsgebiet der Genomik, das sich mit den Mutationen in der Erbsubstanz DNA befasst, ist eine grosse Errungenschaft. Allerdings kann der Zustand der DNA nicht den Akut-Status, also den aktuellen Zustand einer Zelle, ausdrücken, nur das Potential einer Zelle zeigen. Demnach gibt es keine Voraussagemöglichkeit, wie eine bestimmte Gen-Mutation in einer bestimmten Person eine Zelle beeinflusst. In der Proteomik dagegen können wir den Akut-Zustand messen und daher Angriffspunkte für eine Behandlung erkennen. Im Vordergrund stehen derzeit Tumor-Erkrankungen, weil dort die betroffenen Zellen bekannt und zugänglich sind. Bei anderen komplexen Krankheiten ist es schwieriger, weil die betroffenen Zellen nicht zugänglich oder unbekannt sind. Als Beispiel wäre hier das Metabolische Syndrom genannt, bei dem verschiedene Erkrankungen wie Übergewicht, Bluthochdruck sowie Zucker- und Fettstoffwechselstörungen auftreten, die sich auf verschiedene Organe im Körper auswirken.
Sie leiteten ein ETH-Projekt zum Tumor-Pofiling: Welche Erkenntnisse konnten Sie dabei gewinnen?
In den letzten drei Jahren gingen 240 Personen mit Blut-, Eierstock- oder Haut-Krebs durch unser Programm. Die neuartigen Daten, einschliesslich der Proteomik-Daten, die im Projekt erhoben wurden, waren bereits wirkungsvoll. Das sogenannte Tumor-Board, also das ärztliche Gremium, das die einzelnen Fälle von Krebs-Patientinnen und -Patienten bespricht, konnte sie bereits als Entscheidungshilfe für die Therapien verwenden. Nach der Pilotphase wird das Projekt seit dem 1. Juli langfristig als Verbundprojekt von verschiedenen Universitäten, Spitälern und der Privatwirtschaft weitergeführt. Es wird als nachhaltiges Programm auf andere Tumor-Erkrankungen und geographisch über die Achse Zürich-Basel ausgeweitet werden. Wer wird davon profitieren können? Im Vordergrund stehen Krebs-Erkrankungen, die leichten Zugang zu den betroffenen Zellen ermöglichen wie etwa ein Haut-Krebs oder Lymphome. Aber auch andere Krankheiten können länger fristig ebenfalls davon profitieren. Wie erwähnt, sind generell die Zugänglichkeit und Komplexität einer Krankheit entscheidend.
Wie sieht die personalisierte Medizin der Zukunft aus?
Es laufen Bestrebungen, die personalisierte Medizin nachhaltig zu etablieren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sollen zusammenarbeiten und zur besseren Versorgung der Patientin und des Patienten neue Daten erheben und Zugang dazu erhalten. In der Onkologie haben wir eine ganze Palette von möglichen Therapien. Die Herausforderung ist die Zuordnung der optimalen Behandlung für jeden Patienten. Ziel wäre es, Tumor-Erkrankungen in eine langfristig gemanagte Situation zu bringen.
Was genau meinen Sie damit?
Ich meine damit, dass Krebs in der Zukunft als eine chronische Krankheit behandelbar sein wird. Es liegt in der Natur der Erkrankung, dass sie sich ständig verändert und eine Resistenz gegen angewandte Therapien entwickelt. Wenn wir aber periodisch Gewebe-Proben untersuchen könnten, dann würden wir auch frühzeitig Resistenzen erkennen und könnten dann frühzeitig eine andere, noch wirkungsvolle Behandlung anwenden. Analog etwa zu Virus-Erkrankungen. Ein gutes Beispiel dafür ist HIV, eine ursprünglich tödliche Erkrankung. Ende der 80er-Jahre gab es erste Therapeutika. Doch das Virus veränderte sich so, dass es resistent und wieder tödlich wurde. Inzwischen gilt die Krankheit als chronisch, weil verschiedene Mittel eingesetzt werden, sodass es für das Virus schwierig ist, Resistenz zu entwickeln. Dieses Ziel streben wir auch für Tumor-Erkrankungen an. Resistenzen frühzeitig zu erkennen, ist ein sehr realistisches Ziel. Das wäre sicher ein Meilenstein!
Sie treten jetzt Ende August in den Ruhestand – oder doch eher in den Unruhestand?
Eigentlich habe ich ja schon zwei Jahre über die Pensionsgrenze für unser Projekt gearbeitet. Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt zurückzutreten, da Jüngere das Projekt weiterführen. Trotzdem werde ich mich noch in einige wissenschaftliche Angelegenheiten einbringen. Solange meine Erkenntnisse noch akut und relevant sind, werde ich für Stiftungen im Beirat sitzen. Aber ich werde nicht mehr die gleiche Belastung wie früher haben und mich mehr der Familie und Hobbys widmen. Die Grosskinder in den Staaten besuchen, solange die Gesundheit noch anhält. Denn Gesundheit ist nicht selbstverständlich – trotz aller Forschungserfolge.