Von Danica Gröhlich, 11. August 2021
Ein komplexer Vorgang im Gehirn ermöglicht das Lesen und Schreiben. Für Menschen mit einer Legasthenie ein ständiger Kampf – auch gegen Vorurteile.
Nur sehr stockend und langsam liest der Erstklässler vor. Er lässt ganze Wörter aus, fügt einzelne Buchstaben hinzu, vertauscht oder verdreht sie. Damit ist er nicht alleine: Internationale Zahlen zeigen, dass fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung an einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung leiden, in der medizinischen Fachsprache Legasthenie genannt. Diese kommt bei Kindern sowie Erwachsenen gleich häufig vor. Denn eine Legasthenie wächst sich nicht aus. Wie Betroffene bereits in der Schule damit leben lernen, weiss Dr. Silvia Brem. Sie ist Professorin für Kognitive Neurowissenschaften im Kindesund Jugendalter und forscht an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Frau Professor Brem, warum schämen sich auch Erwachsene noch für ihre Legasthenie?
Legasthenie ist oft mit grosser Scham verbunden, weil viele immer noch glauben, dass diese Menschen einfach zu faul zum Lernen oder zu dumm seien. Diese Vorurteile existieren leider immer noch. Aus mangelnder Unterstützung oder auch aus Scham entscheiden sich Menschen mit Legasthenie sehr bewusst für Berufe, für die Lesen und Schreiben nicht mehr so wichtig sind. So können sie das Lesen und Rechtschreiben umgehen. Denn eine Legasthenie bleibt für Betroffene sehr belastend.
Eine Legasthenie hat aber nichts mit verminderter Intelligenz zu tun.
Im Gegenteil! Eine festgestellte Intelligenzminderung gilt gemäss Definition sogar als Ausschlussgrund für eine Diagnose. Unter den Betroffenen sind auch viele hochintelligente Menschen. Auch Albert Einstein war Legastheniker. Oder der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger von 2017, Jacques Dubochet. Menschen mit Legasthenie sind meist so kreativ, dass sie diese Schwäche bis zu einem gewissen Grad kompensieren können.
Wie hinderlich ist eine Legasthenie im Schulalltag?
Bei einer Legasthenie kann nur das Lesen oder auch nur das Rechtschreiben betroffen sein. Oftmals sind das Lesen und die Rechtschreibung betroffen. Laut Definition gilt sie als Behinderung. Denn eine Lese-Störung betrifft ja nicht nur die Sprachfächer. Selbst in der Mathematik haben diese Kinder oft mehr Mühe, zum Beispiel Satzaufgaben zu verstehen, und schaffen es nicht, diese in der geforderten Zeit zu lösen.
Was sind denn die Ursachen für eine Legasthenie?
Die genauen Ursachen für die Lesesowie Rechtschreibstörung kennen wir noch immer nicht. Allerdings sind Kinder häufiger betroffen, wenn deren Eltern oder Geschwister bereits eine Legasthenie haben. Daher weiss man, dass auch Gene eine Rolle spielen. Immer aber ist es ein Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren. Die Ursachen sind also multifaktoriell. Inzwischen bringt die Forschung mehrere Gene damit in Verbindung, welche ganz früh in der Hirnentwicklung eine Rolle spielen. Ebenso sind aber auch Umweltfaktoren, also zum Beispiel das sprachliche Umfeld und die Lesesozialisation in der Familie und im Kindesalter für diese Entwicklung wichtig. Denn Lesen ist ein sehr komplexer Vorgang im Gehirn: Unter anderem braucht es die visuelle Verarbeitung der Schrift, die Übersetzung ins Lautbild bis hin zum Verständnis eines Wortes oder ganzen Satzes.
Wie äussert sich diese falsche Verknüpfung beim Lesen?
Das Kind hat sehr Mühe, kann nicht flüssig lesen und es ermüdet rasch. Zudem versteht ein Kind mit Legasthenie oft nicht, was es gelesen hat. Bei der Rechtschreibung machen diese Schülerinnen und Schüler für ihren Entwicklungsstand viel länger und häufiger Fehler. Spiegelbildliches Vertauschen – wie ein b mit einem p zu verwechseln – ist übrigens kein typisches Zeichen für eine bestehende Legasthenie. Wenn Eltern dagegen merken, dass ihr Kind sich mit dem Lesen sehr schwer tut, oftmals frustriert ist und anfängt, sich ständig ums Lesen herumzumogeln, und auch keine Büchlein mehr anschauen möchte, die vom Thema her für das Kind spannend wären, dann sollte mit der Lehrperson Kontakt aufgenommen werden, um in einem nächsten Schritt bei der Schulpsychologie eine Abklärung durchzuführen. Wenn zu lange zugewartet wird, entwickeln Kinder mit Legasthenie häufig Begleitprobleme. Etwa Frustration, weil sie nicht so gut Lesen können wie ihre Schul-Gspänli, oder sie klagen über Kopf- und Bauchweh, wenn sie in die Schule sollten. Sie verweigern ihre Hausaufgaben, sind oft traurig oder aggressiv und möchten nicht zur Schule. Sehen Eltern, dass ihr Kind leidet, sollten sie zur Kinderärztin oder zum -arzt gehen. Kinder mit einer Legasthenie zu erkennen, ist nicht immer einfach, denn manche Kinder finden Mittel und Wege, um ihre Schwächen zu verbergen, sodass es in der Schule nicht immer auffällt.
Sind ohne Unterstützung auch psychische Folgen möglich?
Ja, denn ein Kind, das unter Legasthenie leidet, macht vieles durch, was zur erwähnten Frustration, aber auch zu mangelndem Selbstwertgefühl führen kann. Dies kann in sehr schlimmen Fällen zur Schulverweigerung bis hin zu Depressionen oder gar Suizidgedanken führen. Deshalb ist es für die betroffenen Kinder wichtig zu wissen, warum sie mehr Mühe als andere Kinder haben, dass sie nicht schuld sind und vor allem, dass sie nicht dumm sind. Man sollte die Kinder daher einerseits beim Lernen unterstützen, aber gleichzeitig sie auch in ihrem Selbstwertgefühl stärken. Dazu gehört, nicht nur an den Schwächen zu arbeiten, sondern die Kinder auch darin zu unterstützen, ihre Stärken zu finden.
Was hilft Betroffenen zusätzlich?
Eine Legasthenie ist zwar nicht heilbar, Betroffene können aber einen Weg und Strategien finden, um damit umzugehen. Etwa, indem sie Wortbilder auswendig lernen oder später dann gezielt technische Hilfsmittel wie Rechtschreibprogramme einsetzen. Statt Texte zu lesen, können sie auch angehört werden. So schaffen es Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche auch, ein Studium abzuschliessen – ohne ständig über die Buchstaben zu stolpern.
Weitere Informationen für Eltern und Betroffene:
Verband Dyslexie Schweiz
Vielfalt an Begriffen
Bei Eltern, Betroffenen und Lehrpersonen steht nach wie vor die Bezeichnung Legasthenie an erster Stelle. Dieser älteste Begriff für solche Lern-Schwierigkeiten im schriftsprachlichen Bereich stammt aus dem medizinischen Fachbereich. International weit verbreitet ist die Bezeichnung Dyslexie, die Mitte des letzten Jahrhunderts auch in unserem Sprachraum übernommen wurde. Zunehmend geläufig wurde die Lese- und/oder Rechtschreibstörung, kurz LRS, welche auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ihre Internationale Klassifikation der Krankheiten verwendet. Treten die Probleme mit Zahlen auf, spricht die Wissenschaft von einer Dyskalkulie oder Rechenstörung.