Interview Jeanne Fürst und Danica Gröhlich, 17. Juni 2021
Menschen mit Zwangsstörungen müssen bestimmte Handlungen ständig wiederholen. Die Fachärztin Jana Wagner sagt, wie man das stoppt.
Frau Wagner, wann wird etwas zum Zwang?
Wenn jemand bestimmte Handlungen oder Gedanken ständig wiederholen und oft immer gleich durchführen muss. Auf Aussenstehende wirkt das zumeist übertrieben. Das erkennen zwar auch die Betroffenen, sie können ihr Verhalten trotzdem nicht verändern.
Leiden viele Menschen darunter?
Bis zu 2 Prozent der Bevölkerung leiden unter Zwangsstörungen. Diese gehören zu den häufigeren psychischen Erkrankungen. Weil viele Betroffene ihren Zwang aus Scham jahrelang verheimlichen, wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Meist treten erste Symptome bereits in der Kindheit und Jugend auf. Die Pandemie hat den Fokus auf Hygienezwänge verstärkt.
Welche Zwänge gibt es?
Typische Beispiele für Zwangserkrankungen sind Wasch- und Sauberkeitszwänge wie extrem häufiges Händewaschen, langes Duschen oder mehrfach tägliches Wechseln der Kleidung. Auch Putzzwänge sind häufig, ebenso Kontrollzwänge, bei denen Betroffene Türen, Wasserhähne oder Elektrogeräte kontrollieren. Auch Zähl-, Sammel- und reine Wiederholungszwänge sind möglich. Ein kleinerer Teil leidet ausschliesslich unter aufdringlichen Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen. «Ich könnte jemanden verletzen, obwohl ich das gar nicht will!»
Was sind mögliche Auslöser?
Der Auslöser für die hinter einem Zwang stehenden Ängste kann ein extremes oder gar traumatisches Erlebnis sein, das zu übertriebener Vorsicht führt. Eine Patientin etwa erlebte einen Wohnungseinbruch und begann, Fenster und Türen zu kontrollieren. Ausserdem sind besonders unsichere, ängstliche Menschen eher gefährdet, eine Zwangsstörung zu entwickeln, da diesen der Zwang im Alltag «hilft», indem er für Struktur und scheinbare Sicherheit sorgt.
Wann ist Hilfe angezeigt?
Wenn jemand aufgrund wiederholter Handlungen oder Gedanken nicht mehr wie gewohnt leben kann. So können Zwänge zur Leistungsminderung in der Schule oder im Beruf führen. Auch der Rückzug aus Freundschaften kann ein Hinweis sein oder familiäre Konflikte, wenn erwartet wird, dass alle in der Familie die Kleidung so oft wechseln wie die Person, die unter diesem Zwang leidet.
Sind Zwangsstörungen therapierbar?
Eine professionelle Behandlung lohnt sich immer. Die erste Wahl ist eine Expositionstherapie, bei der sich jemand seinen Zwängen stellt. Ich habe es als Therapeutin oft selbst erleben dürfen, dass teils auch über 20 Jahre lang unbehandelte Zwangserkrankungen so weit gebessert wurden, dass plötzlich wieder ein ganz anderes Leben möglich war.