Ein sauberer Schnitt ins Leben?

Von Danica Gröhlich, 5. Mai 2021

Stundenlange Wehen? Schauermärchen über die natürliche Geburt verunsichern vorher viele Schwangere. iStock

Immer mehr werdende Mütter wünschen sich einen Kaiserschnitt. Was für und welche Gründe gegen den geplanten Eingriff sprechen.

«Deshalb liebe ich meinen Beruf so sehr!» 2000 Babys hat Dr. Irène Dingeldein auf die Welt geholfen. «Im besten Fall begleiten wir die Frauen über neun Monate lang, bauen eine Bindung auf und lernen uns so gut kennen», schwärmt die Fachärztin für Geburtshilfe von ihrer Arbeit. Dabei steht immer die Gesundheit der Frau sowie des Kindes im Vordergrund. Kritisch betrachtet die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe aber die Zunahme an Kaiserschnitt-Geburten. In der Schweiz kommt von 85’000 Geburten pro Jahr und je nach Klinik bereits jedes zweite bis dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt.

Frau Dr. Dingeldein, warum kommt es zu mehr Kaiserschnitten?
In unserer modernen Gesellschaft müssen wir eine sichere Medizin anbieten und somit auch sichere Geburten. Deshalb wünschen sich immer mehr Frauen einen «sauberen Schnitt». Zudem steigt die Zahl an älteren Schwangeren. Ab 40 Jahren gelten diese als Risiko schwangere. Ihre Blutversorgung ist schlechter und das Kind hat weniger Reserven, wenn der Geburtstermin überschritten wird. Zudem steigt durch die Reproduktionsmedizin die Zahl an Mehrlingsgeburten, auch wenn Zwillinge per se kein Grund für einen Kaiserschnitt sind. Die Entscheidung ist von den behandelnden Medizinern und vom Spital abhängig. In einer Privatklinik, wo für die Narkose zuerst jemand anreisen muss, ist die Anzahl Kaiserschnitte höher, als in einem Spital, in dem bereits alle anwesend sind. Zudem kursieren unzählige Schauermärchen über natürliche Geburten, die den Frauen Angst machen. Die Aufgabe der betreuenden Hebamme oder Geburtshelferin ist aufzuklären. Das braucht aber Zeit, und Zeit ist eben auch Geld. Zudem wurde der finanzielle Anreiz für Kaiserschnitte korrigiert. Denn trotz eines Kaiserschnitts bleiben die Frauen nicht länger im Spital. Sie erholen sich sehr schnell, können sechs Stunden nach der Geburt aufstehen. Wir dürfen den Kaiserschnitt also nicht verteufeln.

Dr. Irène Dingeldein, Fachärztin für Geburtshilfe und Gynäkologie, Präsidentin gynécologie suisse (zVg.)

Dennoch will die Weltgesundheitsorganisation WHO mit neuen Leitlinien die Kaiserschnitt-Rate senken.
Genau, denn streng genommen gibt es nur wenige Indikationen für einen Kaiserschnitt. Das ist dann der Fall, wenn das Kind quer liegt oder der Mutterkuchen vor dem Muttermund liegt. Ein Kaiserschnitt ist auch dann angezeigt, wenn die Herztöne des Kindes bei der Geburt auf einen möglichen Sauerstoffmangel hindeuten. Ein Zeichen dafür kann das grüne Fruchtwasser sein. Selbst Kinder in Beckenendlage, die lange als extrem gefährlich für das Ungeborene galt, könnten durch gut ausgebildete Geburtshelfer auf natürliche Weise zur Welt kommen. Wenn es während der Geburt nicht vorangeht und es für Mutter und Kind gefährlich wird, sind wir immer auf einen Kaiserschnitt vorbereitet. Nach einem Kaiserschnitt kann es für die nächste Schwangerschaft vermehrt zu Komplikationen kommen. Dies vor allem bei der Einnistung des Mutterkuchens, wenn diese im Bereich der Narbe zu liegen kommt und dort zu stark an der Gebärmutter anwächst. Dann ist für die Geburt zwingend ein erneuter Kaiserschnitt nötig.

In der Geburtshilfe muss man Geduld haben und dem Vorgang der Geburt Zeit lassen. Wenn jemand nur noch Kaiserschnitte durchführt, weil er nicht mehr in der Nacht aufstehen will, dann ist er kein richtiger Geburtshelfer. Auch ein Wunsch-Datum ist kein Grund für einen geplanten Kaiserschnitt. Wir sollten die Natur walten lassen.

Fühlen sich diese Frauen nicht mehr vollwertig, wenn sie nicht natürlich gebären konnten?
Wenn sich eine Frau von Anfang an für einen Kaiserschnitt entscheidet, dann ist es meist kein Problem. Und immer sprechen wir die Geburt im Nachhinein nochmals durch. Auch der gesellschaftliche Druck ist inzwischen nicht mehr so stark. Ich erlebe selten eine Frau, die wirklich daran leidet, dass sie nicht natürlich gebären konnte.

Schwangere hören oft furchtbare Geschichten über Geburten mit stundenlangen Wehen.
Aus meiner Erfahrung weiss ich, dass jede Frau die Geburt ihres Kindes anders empfindet. Deshalb rate ich allen Schwangeren: Hört einfach nicht auf alles, was von rechts und links kommt! Die Vorwehen setzen bereits zwei Tage vorher ein, zählen aber noch nicht zu den eigentlichen Geburtswehen. Die Geburt selbst fängt erst beim Eröffnen des Muttermundes an. «48 Stunden lang Wehen» kann also nicht stimmen. Und ja, es tut furchtbar weh! Da kann ich die Frauen nicht anlügen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, die Schmerzen zu lindern. Etwa mit homöopathischen Mitteln, durch Entspannung im warmen Wasser der Badewanne oder mit der Periduralanästhesie, der sogenannten Walking PDA, bei der Frauen noch herumlaufen können. Dann kann die Frau meist loslassen und geht es meist ruckzuck voran.

«In der Geburtshilfe muss man Geduld haben und dem Vorgang der Geburt Zeit lassen.»

Zu welchen Komplikationen kann es dennoch kommen?
Eine gefürchtete Komplikation ist es, wenn die Schulter des Kindes stecken bleibt. Diese Gefahr besteht bei grossen Babys, die über vier Kilo wiegen. Dann muss man ruhig bleiben. Erfahrung ist alles. Ich muss manchmal mit der Hand hineingreifen und die Schulter lösen, mit dem Risiko für einen Schlüsselbeinbruch beim Kind. Meist, wenn der Kopf gross ist oder das Kind schnell rausflutscht, kann es zu einem Dammriss kommen. Um ein Einreissen des Gewebes zu verhindern, machen Hebammen einen Dammschutz. Liegt ein Kind ungünstig und muss herausgezogen werden, kann auch der Verschlussmuskel des Anus vom Riss betroffen sein. Deshalb ist die anschliessende Untersuchung so wichtig und die fachgerechte Versorgung unumgänglich.

Was sind mögliche Folgen für das Baby nach einem Kaiserschnitt?
Bei einer natürlichen Geburt werden die Lungen ausgepresst. Nach einem Kaiserschnitt kann das Kind manchmal unter einer sogenannten «feuchten Lunge» leiden, weil noch Flüssigkeit drin bleibt. Zudem ist laut Studien das Immunsystem nach einem Kaiserschnitt weniger stark ausgeprägt. Dies aufgrund der veränderten Entwicklung der kindlichen Darmflora. Kaiserschnitt- Kinder kommen ohne den Geburtskanal nicht in Kontakt mit neuen Bakterien der Mutter.

Neu gibt es für die Eltern beim Kaiserschnitt ein Guckloch im aufgespannten Trenntuch.
Was halten Sie von solchen «Fenstergeburten »? Eine unglückliche Entwicklung! Denn manchmal müssen wir manipulieren. Das sieht dann gröber aus als es ist. Ich hoffe nicht, dass solche Guckloch-Geburten in Mode kommen. Filmen ist übrigens auch nicht erlaubt. Diese Social- Media- Tendenz ist schon sehr fragwürdig. Der wunderbare Moment einer Geburt – ob natürlich oder mit Kaiserschnitt – sollte nicht gleich mit der ganzen Welt geteilt werden.

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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