«Veganer stossen auf Unverständnis»

Von Danica Gröhlich, 7. April 2021

Wie viel Vorwissen ist für die vegane Ernährung nötig? (iStock)

Vor zwei Jahren öffnete in Zürich die erste vegane Arzt-Praxis. Wer zur Konsultation kommt und weshalb noch Vorurteile existieren.

«Wir sind derzeit voll ausgelastet. Überrannt werden wir aber noch nicht», erzählt Vegan-Arzt Renato Werndli. «Veganer sind eben gesund und müssen nicht so oft zu uns in die Praxis kommen», fügt der 67-Jährige an – wohl-wissend, dass er mit dieser Aussage bei allen Skeptikern in ein Wespennest sticht. Seine Begründung: Vegane Patientinnen und Patienten bräuchten meist keine Folgekonsultationen. Diesen Unterschied stelle er in seiner weiteren Hausarzt-Praxis in St. Gallen fest, wo Werndli Menschen aller Ernährungsformen behandelt.

Von der Ethik zur Gesundheit

Vor genau zwei Jahren hat der Allgemeinmediziner zusammen mit einem Facharzt der Inneren Medizin die Eröffnung der ersten veganen Arzt-Praxis namens «Service Sans Soucis» in Zürich gefeiert. Doch wer nimmt diesen sorgen losen medizinischen Dienst in Anspruch? 61 Prozent seien Frauen. Das Durchschnittsalter seiner veganen Patientinnen und Patienten ist mit 25 bis 30 Jahren sehr tief, widerspiegelt aber aktuelle Statistiken über die fleischlose Lebensweise. «Ich denke, dass Junge generell offener sind gegen- über der Idee von einem Leben ohne Tierleid.» Dagegen hätten ältere «Allesfresser» – der Vegan-Arzt nennt sie «Omnivoren» – nach Jahrzehnten eher Mühe umzustellen. «Die meisten entscheiden sich aus ethischen, aber auch ökologischen und gesundheitlichen Gründen für ein veganes Leben.» Neben den beiden Ärzten ernähren sich die meisten des Praxis-Teams vegan. Werndli selbst ist seit 40 Jahren Vegetarier, verzichtet seit 11 Jahren ganz auf tierische Produkte. Zuerst allerdings nicht aus gesundheitlichen, sondern aus rein tierethischen Gründen, wie er betont.

Weshalb braucht es überhaupt eine vegane Arzt-Praxis? «Veganer stossen bei Ärzten leider oft auf Vorurteile und sogar Unverständnis», stellt Werndli fest. Noch immer würde er regelmässig zu hören bekommen, dass gesundheitliche Beschwerden bei Hausärzten nicht richtig abgeklärt, sondern vorschnell auf den veganen Lebensstil abgeschoben würden. Meist falle dann auch sofort der Begriff «Mangelernährung», welche fast immer als einzige Ursache herhalten müsse. Verwunderlich sei das nicht, da für angehende Ärztinnen und Ärzte die Ernährung im Studium nur ein Randthema sei.

Mangelnde Studien

Noch einmal wiederholt Dr. Werndli, dass Menschen mit veganer Ernährung weniger krank seien. Es können sogar Krankheiten vermieden werden, ist er überzeugt: «Die Hormone in der Milch regen das Gewebewachstum an, so auch für Krebs.» Dafür beruft sich der Vegan-Arzt während des Gesprächs immer wieder auf Studien. Die Eidgenössische Ernährungskommission (EEK) veröffentlichte 2018 die letzte grosse Studie dazu mit dem Titel «Übersichtarbeit zu den ernährungs physiologischen und gesundheitlichen Vor- und Nachteilen einer veganen Ernährung». Darin kommt sie zum Schluss, dass eine gut geplante vegane Ernährung den Energie- und Nährstoffbedarf zu decken vermag. Es sei aber weitere Forschung erforderlich, bevor eine vegane Ernährung in der Schweiz als Gesundheitsmassnahme empfohlen werde. Der Haken an solchen Studien: Meist nehmen nur vegane Menschen daran teil, die bereits überdurchschnittlich auf ihre Gesundheit achten. Dieser gesunde Lifestyle sollte in guten Studien sicher mitberücksichtig werden, fordert Werndli deshalb.

Mangelnde Nährstoffe

Nehmen vegan Lebende denn genügend Eiweiss zu sich? Dieser Hauptnährstoff, auch Protein genannt, steckt unter anderem in Fleisch, Fisch, Eiern und Milch. Es könne mit Hülsenfrüchten und Getreidearten gut ersetzt werden, so Werndli. Auch das Kalzium für starke Knochen könne anstelle von Milchprodukten grünes Gemüse wie Brokkoli decken. Selbst diese Bedenken weist der Vegan-Arzt von der Hand: «Wir haben bei praktisch niemanden einen Kalziummangel gemessen.» Lebensnotwendig für den Organismus ist zudem Jod. Das Spurenelement ist unter anderem wichtig für Wachstumsprozesse, die Entwicklung des Nervensystems und somit des Gehirns. Über die Schilddrüse reguliert Jod den Stoffwechsel und das Herzkreislaufsystem. Seit in der Schweiz das Salz jodiert sei, mache sich ein Mangel nur selten bemerkbar. «Diesen könnte man mit Algen ausgleichen», weiss Werndli.

Dr. med. Renato Werndli, Facharzt für Allgemeinmedizin, Service Sans Soucis AG, Zürich (zVg.)

«Der einzige Nährstoff, der mit einer rein pflanzlichen Ernährung nicht aufgenommen werden kann, ist das Vitamin B12. Veganer müssen dieses substituieren, also zusätzlich aufnehmen. Für Kinder bis 12 Jahre empfehle ich ebenfalls Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren.» Zudem sei ein Eisenmangel bei Frauen generell häufiger aufgrund ihrer Regelblutung. Dabei spiele es keine Rolle, wie sich diese Frauen ernähren, so Werndli. Allerdings kann der Körper Eisen aus Pflanzen nur zu einem geringen Teil aufnehmen. Eisen gilt als wichtiges Spurenelement für die Blutbildung und den Sauerstofftransport. Es fördert zudem die Entwicklung des Gehirns bei Heranwachsenden. Deshalb brauchen gerade Jugendliche, Frauen und Schwangere sehr viel Eisen. Kaffee, aber auch grüner und schwarzer Tee, hemmen die Eisenaufnahme des Körpers. Dafür erhöht eine Kombination mit Vitamin C, etwa in Orangensaft, die Aufnahme. Unsicherheit herrscht auch bei Soja-Produkten wie Soja-Drinks oder Tofu. Sind die darin enthaltenen Phytoöstrogene hormonell wirksam? Dr. Werndli sieht auch hier keine Einschränkung, nur deren positive Wirkung durch sekundäre Pflanzenstoffe, wenn man es nicht übertreibe. Allerdings rät die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) Schwangeren, Stillenden, Kindern oder Senioren von einer veganen Ernährung ab.

Für alle ausgewogen

Worauf muss jemand achten, der dennoch auf tierische Produkte verzichten möchte? Ein spezielles Vorwissen ist laut Werndli nicht nötig: «Wenn behauptet wird, dass Vegane von Ärzten und Ernährungsberatern begleitet werden müssen, so ist das in meinen Augen eine reine Angstmacherei. » Eine ausgewogene Ernährung sei dagegen für alle gesund. «Also viel Obst, Gemüse, Kartoffeln, Nüsse und Pilze. Zudem nicht zu viel Weissmehl, Salz und raffinierter Zucker.» Und was hält er von Fleisch ersatzprodukten, um eine Umstellung zu erleichtern? «Ein Fleisch ersatz ist nicht einmal nötig und auch nicht wirklich zu empfehlen, da diese Produkte meist Zusatzstoffe und zu viel Salz enthalten.» Wer sich vegan ernähren möchte und auf Nummer sicher gehen will, soll doch regelmässig einen Bluttest machen, um allfällige Mangelerscheinungen zu erkennen. «Das rate ich aber auch allen Omnivoren», fügt der Vegan-Arzt noch an.


Vegane Arzneimittel

Vielen ist nicht bewusst, dass auch Medikamente tierische Bestandteile enthalten können. Wie z. B. Gelatine in der Hülle von Kapseln – ein Geliermittel aus tierischen Häuten, Sehnen und Knochen. Deshalb hat Dr. Renato Werndli für seine Vegan- Praxis bei den Pharmafirmen nachgefragt. So enthält rund ein Drittel der Medikamente keine tierischen Bestandteile. In Tierversuchen getestete Arzneimittel sind für den Arzt kein Grund, sie als nicht-vegan zu betrachten. Weil oft Fische in Kläranlagen die Wasserqualität testen, wäre sogar Wasser nicht mehr vegan. Veganismus müsse aber praktikabel bleiben.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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