Wenn der Schmerz das Leben beherrscht

Von Danica Gröhlich, 24. März 2021

Hinter den Schmerzen stecken unvorstellbare Schicksale. (iStock)

Morgens, mittags, abends und vor allem in der Nacht: Für etwa jede 6. Person in der Schweiz ist der Alltag pausenlos eine Qual. Was bei chronischen Schmerzen helfen kann.

«Das Thema liegt mir persönlich sehr am Herzen! Es leiden so viele unter chronischen Schmerzen», erklärt die Neurochirurgin und Schmerzspezialistin Dr. med. Petra Hoederath ihr ungebrochenes Engagement. Seit bald 20 Jahren befasst sie sich mit Schmerzen und hat mit ihrer Schmerzsprechstunde in der Klinik Stephanshorn in St. Gallen schon unzählige Menschen aus diesem «leidvollen Teufelskreis» herausgeholt.

Frau Dr. Hoederath, in der Schweiz leidet jede 6. Person unter chronischen Schmerzen. Werden es noch mehr?
Leider nimmt der Zulauf von leidgeplagten Menschen in unserer Schmerzsprechstunde tatsächlich zu. Inzwischen sehen wir nicht mehr nur den klassischen Bandscheibenvorfall, sondern Patientinnen und Patienten mit einem diffusen Ganzkörperschmerz. Bereits eine leichte Berührung löst dann unvorstellbare Qualen aus. Generell leiden mehr Frauen unter Schmerzen, was auf die Sexualhormone zurückzuführen ist. Zudem scheinen Frauen eine reduzierte endogene Schmerzhemmung zu besitzen. Die Schmerzsendung ins Gehirn ist damit ausgeprägter. Personen von 19 bis 95 Jahren kommen zu uns. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 48 Jahren – Tendenz aber steigend. Da wir immer älter werden, sind unsere Gelenke länger belastet und nutzen sich eher ab.

Was sind die häufigsten chronischen Schmerzen?
Als chronisch bezeichnen wir Schmerzen, die länger als drei Monate andauern und, für die nicht mehr immer eine Ursache gefunden wird. Der Rücken ist hier klarer Spitzenreiter. Die Schmerzen rühren meist von einer Arthrose mit Abnutzungserscheinung her, von einer Einengung des Rückenmarkskanals oder von Bandscheibenvorfällen. Dann folgen Kopfschmerzen mit Migräne oder einem Spannungskopfschmerz. Aber auch grosse Gelenke wie die Schulter, Hüfte oder das Knie sind häufige Schmerzherde.

Dr. med. Petra Hoederath, Neurochirurgin und Schmerzspezialistin, Klinik Stephanshorn, St. Gallen (zVg.)

Wo genau entsteht der Schmerz?
Der Schmerz entsteht an den Nerven. Schmerzrezeptoren leiten diesen dann über das Rückenmark weiter ins Gehirn, wo er verarbeitet wird. Akuter Schmerz hat dabei eine Warn- und Schutzfunktion. Wenn Sie auf eine heisse Herdplatte fassen, dann signalisiert der Schmerz, dass Sie die Hand sofort wegziehen. Besteht aber eine eigene Schmerzerkrankung, dann brennt die Hand auch, ohne dass sie etwas Heisses berührt. Die Nervenzellen senden dieses Signal permanent ans Gehirn. Je länger also ein Schmerz besteht, desto mehr verändert sich das Schmerzgedächtnis. Dabei werden viele Areale im Gehirn, die den Schmerz ebenfalls über Emotionen oder Gerüche bewerten, nachweislich grösser. Studien zeigen aber auch, dass sich das Gehirn wieder herunterregulieren lässt. Deshalb sind Strategien zur Schmerzbewältigung so wichtig. In der ersten  Sprechstunde machen wir eine ausführliche Schmerzanamnese, wo auch die Schmerzart ermittelt wird. Ist der Schmerz dumpf oder brennend wie Feuer, sodass bereits die Bettdecke höllisch weh tut? Löst das Nervensystem diesen brennenden Schmerz aus, sind klassische Schmerzmittel wirkungslos. Im Gegenteil: Magengeschwüre und Thrombosen bis hin zu einem Herzinfarkt sind mögliche Folgen. Tabletten gegen Kopfschmerzen können sogar welche auslösen.

Sehen Sie in Ihrer Sprechstunde oft bereits eine Abhängigkeit von Schmerzmitteln?
Abhängigkeit bei chronischen Schmerzpatienten ist ein schwieriges Thema. Der Körper gewöhnt sich natürlich an Medikamente. Opiate sind ein wichtiger Pfeiler in der Schmerztherapie und bei leitliniengerechtem Einsatz nicht wegdenkbar. Dennoch sind 5 bis 8 Prozent abhängig und behandlungsbedürftig. Ein weiteres Problem ist zudem die Multimedikation, bei der Patienten bis zu 30 Arzneimittel einnehmen und oft von jedem ein bisschen und von  keinem genug. Die Patienten haben dann das Gefühl, alles bereits ausprobiert zu haben, und nichts hilft.

Wie sieht die Behandlung aus?
Ganz wichtig ist, die Hilfesuchenden ernst zu nehmen. Oftmals haben Schmerzgeplagte einen jahrelangen Leidensweg hinter sich und fühlen sich als Simulanten abgestempelt. Deshalb nehme ich mir für das Erstgespräch eine Stunde Zeit. Wo und wie ist der Schmerz? Gemeinsam zeichnen wir ihn in ein Schmerzmodel ein und machen ihn dadurch sichtbar. Später können wir einfacher zeigen, wo es besser geworden ist. Rückenschmerzen können etwa durch Spritzen, Physio- oder Ergotherapie gelindert werden. Auch Entspannungstherapien sind möglich, ebenso Hypnose oder Akupunktur. Eine Wassertherapie ist hervorragend. Zudem folgen Medikamente wie ein Antiepileptikum, das Ruhe in den Nerv bringt. Falls jemand keine Medikamente einnehmen möchte, werden auch Globuli oder Schmerzöle eingesetzt. Zudem ziehen wir Case Manager bei, die zum Beispiel bei behördlichen Anfragen helfen.

Gibt es eine Heilung oder «nur» eine Linderung?
Ich verspreche grundsätzlich keine Schmerzfreiheit. Nur wenige werden ihre Schmerzen los. Wir schaffen es aber gemeinsam, die Schmerzen zu reduzieren. Auf unserer Schmerz-Skala von 0 bis 10 – wobei 10 das Schlimmste ist, was Sie sich vorstellen können – akzeptieren die meisten einen Schmerz der Stufe 3. Auch mit einer 5 haben Sie den Schmerz ja bereits halbiert. Die Bewertung des Schmerzes bleibt aber immer individuell. Ganz wichtig ist auch zu lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Ziel der Therapie ist, dass jemand nicht mehr vom Schmerz beherrscht wird, sondern ihn wieder beherrscht.

Welche Rolle spielt dabei die Psyche?
Schmerzen lösen auch immer eine Reaktion der Psyche aus. Oft verlieren Betroffene ihre Arbeit, dann wird die IV abgelehnt und es geht zum Sozialamt. Natürlich hat die ganze Situation auch einen Einfluss auf die Familie und Partnerschaft. Ohne psychologische Fachpersonen in meinem Team geht es nicht. Sie sind ein wichtiger Pfeiler in der Multimodalen Schmerztherapie, in der wir den Menschen ganzheitlich betrachten. Schmerzgeplagte ziehen sich immer mehr zurück. Sie vermeiden soziale Kontakte und Bewegung. Doch ohne Bewegung wird es noch schwieriger. Der leidvolle Teufelskreis beginnt. Da stecken Schicksale dahinter, die mit unerträglichen Schmerzen alleine daheim auf der Couch enden.

Unter Schmerzen ist sicher auch der Schlaf schwierig.
Je weniger wir schlafen, desto mehr Schmerzen haben wir. Tagsüber mit den Aussenreizen geht es für die Betroffenen meist noch, doch nachts schiesst dann der Schmerz ein. Viele «rasen» deshalb die ganze Nacht durch die Wohnung. Hier setzen wir gezielt Medikamente ein, die auch angstlösend sind und den Schlaf fördern – sodass Schmerzgeplagte endlich wieder zur Ruhe kommen.

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF 1.
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