«Der Mann ist noch immer das Mass aller Dinge»

Von Danica Gröhlich 10. Februar 2021

Höherer Körperfettanteil, Hormonschwankungen, schwächere Entgiftungsorgane: Frauen bauen Medikamente langsamer ab. (iStock)

Andere Symptome, andere Wirkung, andere Folgen: Frauen brauchen eine andere Medizin. Weshalb das so ist, weiss die deutsche Pionierin für Gendermedizin.

Frau Professor Regitz-Zagrosek, warum ist die Gendermedizin für uns alle lebenswichtig?
Weil Gendermedizin keine Frauenmedizin ist, sondern ein Bereich der Medizin, der Frauen und Männer bedürfnisgerecht versorgt. Das ist deshalb von grosser Bedeutung, weil in der heutigen Gesellschaft möglichst viele Menschen, möglichst gesund, alt werden wollen. Dieser positive Zugang zum Leben kann nur gewährleistet werden, wenn die Medizin Frauen und Männer individuell abholt. So sollen dank der Gendermedizin die Besonderheiten erkannt, respektiert und entsprechend behandelt werden.

Welches sind denn die Besonderheiten?
Die Leber beispielsweise als wichtiges Entgiftungsorgan hat einen anderen Stoffwechsel. Auch die Sexualhormone greifen in den Medikamentenstoffwechsel ein, was bei Frauen vor der Menopause  ebenfalls zyklisch geschieht. Sie sorgen dafür, dass Arzneimittel anders abgebaut werden. Zudem weisen Frauen – egal, wie schwer sie sind – einen höheren Körperfettanteil auf. Deswegen speichern sie Arzneimittel, die sich in Fett lösen, stärker und bauen diese weniger schnell ab. Zusätzlich haben ältere Frauen häufiger eine schlechtere Nierenfunktion, weshalb sie Medikamente langsamer ausscheiden.

Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek, Direktorin Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, Charité, Berlin (Britta Althausen)

Dann kann es für Frauen auch gefährlich werden?
Ja, leider. Denn es war ganz lange so, dass der Mann das Mass aller Dinge war und die Wissenschaft sich daran orientiert hat. Auch im Beipackzettel wird nicht nach Geschlecht unterschieden. Ein Schlafmittel zum Beispiel wirkte so stark, dass Frauen am nächsten Tag mehr Unfälle verursachten. Und bestimmte Medikamente gegen Herzrhythmus-Störungen können bei Frauen sogar solche auslösen. Denn Frauen haben eine etwas andere Entwicklung in ihren Herzmuskelzellen. Bereits im Bauplan sehen wir grundlegende Unterschiede. So weist jede Zelle des Körpers 46 Chromosomen auf, aber zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen: Jede weibliche Zelle besitzt zwei X-Chromosomen, während männliche Zellen ein X- und ein Y-Chromosom haben. Deshalb beeinflussen in der Folge die Zellen auch die Hirn- oder eben Herzfunktion. Allen Frauen kann ich nur raten, sich immer mit der Ärztin oder dem Arzt abzusprechen und zu schauen, ob die Medikamenten-Dosis vielleicht reduziert werden kann. Das setzt natürlich ein gewisses Verständnis der behandelnden Mediziner*innen voraus.

Ihr Schwerpunkt sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Welche Unterschiede gibt es hier bei den Geschlechtern?
Das fängt bereits bei den Symptomen eines Herzinfarktes an, die bei Frauen häufig nicht dem klassischen Lehrbuch entsprechen. Ich denke da an eine Patientin, die bei der Arbeit plötzlich Übelkeit und Schwäche verspürte. Erst drei Wochen später wurde festgestellt, dass sie damals einen Herzinfarkt hatte. Dreiviertel der Männer haben als Anzeichen für einen Herzinfarkt einen in den linken Arm ausstrahlenden Schmerz, aber nur die Hälfte der Frauen hat die gleichen Symptome. Ich denke, Männer sind da einfacher gestrickt, während Frauen eher unterschiedliche Beschwerden wie ein Unwohlsein wahrnehmen.

Spielt die Psyche bei der Gendermedizin auch eine Rolle?

Frauen und Männer unterscheiden sich in ihrer Psyche und dementsprechend auch in den Erkrankungen der Psyche. Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen werden überwiegend bei Frauen diagnostiziert – möglicherweise werden sie aber bei Männern unterschätzt. Suchtverhalten und antisoziale Persönlichkeitsstörungen spielen eine grössere Rolle bei Männern.

Warum sind in der Forschung meist Männer «Versuchskaninchen»?
Früher war es einfacher, nur Männer für klinische Studien aufzubieten. Sie waren flexibler als Frauen, die zu Hause die Kinder sowie ihren Mann versorgen mussten und kein Auto besassen. Es war also aufwendiger, gute Argumente zu finden, Frauen für die Forschung vor Ort zu bewegen. Auch musste die Wissenschaft sicher sein, dass Frauen im gebärfähigen Alter nicht schwanger werden. Dies wird meist als Ausrede dafür gebraucht, dass Frauen jeglichen Alters nicht teilnehmen dürfen. Herzmedikamente werden übrigens meist auch deshalb an Personen über 60 Jahren getestet. Heute ist man sehr bemüht, auch Frauen miteinzubeziehen. Trotzdem wird immer noch oft verschwiegen, dass in der Frauengruppe keine Wirksamkeit auftrat, unerwünschte Nebenwirkungen festgestellt wurden, oder dann ist das nur im Kleingedruckten der Studie zu lesen.

Was wissen Sie bereits über die Geschlechtsunterschiede bei einer Covid-19-Erkrankung?
Männer haben biologisch die schlechteren Karten. Der männliche Organismus scheint anfälliger auf diese Viren zu sein, sie kommen häufiger auf die Intensivstation und sterben auch vermehrt an Covid-19. Warum Männer schwerer erkranken, ist noch unklar. Sexualhormone und Unterschiede im Immunsystem könnten eine Hypothese dafür sein. Frauen haben dagegen aufgrund ihrer soziokulturellen Stellung ein höheres Ansteckungsrisiko. Sie arbeiten eher in der Pflege oder als Reinigungskräfte. Vor allem seit dem Lockdown sind Frauen vermehrt den Viren ausgesetzt, denn sie können sich beispielsweise als Kassiererin nicht einfach ins Homeoffice zurückziehen. Bei den Langzeitfolgen sind die Geschlechtsunterschiede noch nicht abschliessend erforscht. Ich kenne aber viele Frauen, die nach ihrer Erkrankung noch immer stark leiden, etwa unter Müdigkeit, Schwäche sowie rheumatischen Beschwerden.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Gendermedizin?
Ich wünsche mir, dass die Lehre der Gendermedizin an den Universitäten besser verankert ist. In der Schweiz haben wir bereits eine grosse Aktivität, so zum Beispiel an der Universität Zürich, wo ich als Gastprofessorin arbeiten durfte. Aber auch die Gesundheitspolitik und die Krankenversicherungen sollten in Zukunft mehr darauf Rücksicht nehmen. Das funktioniert allerdings nur, wenn Patienten  und vor allem Patientinnen nicht immer noch nachfragen müssten: «Frau Doktor, ist das Medikament schon an Frauen getestet worden?».


Buch-Tipp zum nicht so kleinen Unterschied

Frauenkörper sind anders. Kein Wunder, dass Frauen entsprechend oft andere Krankheiten (z.B. Rheuma oder Osteoporose) entwickeln als Männer. Aber selbst bei gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer identisch. Warum ist das so? Welche medizinischen Unterschiede lassen sich belegen? Antworten liefern Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek und Dr. Stefanie Schmid-Altringer: «Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Medizin brauchen» (Scorpio Verlag, 2020).


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «GESUNDHEITHEUTE», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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