«Ich bedanke mich täglich, dass ich noch da sein darf»

Von Danica Gröhlich, 28. Oktober 2020

Andreas Cabalzar, Pfarrer in Erlenbach (ZH): «Durch meinen Unfall habe ich Demut gegenüber dem Leben gewonnen.» (zVg)

Pfarrer Andreas Cabalzar war stets im Schnellzugstempo unterwegs. Doch dann bremste ihn ein Skiunfall aus. Seit er im Rollstuhl sitzt, gibt sein Körper den Takt vor.

Mit einem Schlag änderte sich das Leben von Andreas Cabalzar: Der reformierte Pfarrer von Erlenbach im Kanton Zürich verunfallte kurz vor Silvester 2018 beim Skifahren. Dabei brach er sich den vierten Brustwirbel und ist seither querschnittsgelähmt. Wie der 58-Jährige mit der Situation umgeht und was ihm zusätzlich Kraft gibt.

Herr Pfarrer Cabalzar, mit welchen Einschränkungen haben Sie heute noch zu kämpfen?
Ich habe keine Rumpfstabilität. Das heisst, dass ich keine Bauchmuskeln habe und ich mein Leben im Sitzen und Liegen verbringe. Ich werde nie mehr stehen oder gehen. Mein Leben ist auf den ersten Blick beschwerlich geworden. Unterhalb der Verletzung habe ich aber noch Sensibilität, was mir hilft, mich nicht wund zu sitzen. Der Dekubitus – ein Druckgeschwür – ist das Schreckgespenst aller Rollstuhlfahrer. Nicht nur die Haut, der ganze Körper und auch die Seele bedürfen heute grösserer Aufmerksamkeit und Pflege als vor dem Unfall. Beim Rückblick auf den Unfall habe ich mein Leben gewonnen. Ich habe überlebt und viel dabei verloren. Beim zweiten, liebevollen Blick auf meine aktuelle Realität habe ich an Achtsamkeit, Intensität, Ruhe und Dankbarkeit gewonnen.

Haben Sie Schmerzen?
Wenn mich ein Infekt plagt oder mir zu kalt ist, ich unter psychischen Druck gerate, tanzen meine Beine ungewollt. Spastiken – Verkrampfungen – die wohl etwas gewöhnungsbedürftig und unangenehm sind, nehmen mich dann in Beschlag. Diese unkoordinierten Bewegungen geben mir aber auch Hinweise, wenn ich nicht ganz im Lot bin. In letzter Zeit nehmen die Rückenschmerzen zu. Auch hier versuche ich, den Schmerz zu integrieren, einen Umgang mit ihm zu finden und ihn als Boten zu akzeptieren, der mich auf Belastendes auf der körperlichen oder seelischen Ebene hinweist. Seit dem Unfall ist mein Körper der Taktgeber meines Lebens, nicht mehr mein Geist, mein Wille. Mein Körper war über 56 Jahre mein folgsamer Diener, der mich gut durch mein Leben getragen hat. Heute zeigt er mir meine Grenzen auf, indem er beim Überschreiten von eigenen Grenzen mit Schmerzen reagiert. Deshalb versuche ich, auf die Signale zu hören, die mir mein Leib sendet, und, mein Leben entsprechend zu gestalten

Schaut nach vorne: Andreas Cabalzar im Stehtisch (zVg)

Was machen Sie zusätzlich für Ihren Körper?
Ganz wichtig für mich sind Krafttraining, die Wassertherapie und die Physiotherapie. Das therapeutische Training ist Voraussetzung für meine Autonomie. In der Universitätsklinik Balgrist in Zürich werde ich auf meinem Weg medizinisch und therapeutisch hervorragend begleitet. Nur, wenn ich die verschiedenen Transfertechniken beherrsche, die dazu notwendige Kraft habe, kann ich meinen Alltag autonom gestalten. Der Balgrist bietet auch ein Geh-Bad an. Dank des Auftriebes des Wassers und der Geländer im Bad kann ich mich im Wasser aufrecht halten. Zuhause stehe ich täglich eine Stunde im Stehtisch. Ein Motor zieht mich mit Gurten aus dem Rollstuhl in die Vertikale, wo ich fixiert werde. Der aufrechte Stand ist für Körper und Seele Balsam.

Müssen Sie auch eine neue Langsamkeit leben?
Am Morgen benötige ich zwei Stunden vom Bett in den Rollstuhl. Schnell war gestern. Früher war ich schnell. Der Unfall hat mein ganzes Leben verlangsamt. Wenn ich alleine einkaufen will, muss ich wählen: Frage ich um Hilfe oder verzichte ich auf Eier, die zuoberst im Regal sind. Es gibt Tage, an denen ich keine Lust habe zu fragen. Das Angewiesensein verweist auf meinen Autonomieverlust, was mir manchmal zuwider ist.

Als Pfarrer, aber in erster Linie als Mensch: Haben Sie mit Ihrem Schicksal gehadert?
Die Frage, wie Gott so etwas zulassen kann, stelle ich mir nicht. Wenn schon, dann sage ich als gebürtiger Bündner in meiner Muttersprache «Grazia fetg!» und verleihe so meiner Dankbarkeit, dass ich lebe, Ausdruck. Natürlich gibt es auch Momente der Traurigkeit, der Wut. Ich habe nicht den übermenschlichen Anspruch an mich, immer mit dem Widerfahrnis des Unfalls einen positiven Umgang zu finden. Meine erwachsenen Kinder, meine Partnerin, Familie und Freunde sind im Transformationsprozess vom Leben im Stehen zu einem Leben im Sitzen zentral. Meine Kinder waren Zeugen des Unfalls und mussten in der Folge übernehmen, was ich nicht mehr machen konnte. Wie das Räumen des Pfarrhauses und den Umzug in die rollstuhlgängige Wohnung. Durch den Unfall wird auch das Umfeld in eine neue Situation geworfen. Die Behinderung tangiert auch den Lebensvollzug der Nächsten in gravierender Weise.

Ich versuche, den Schmerz als Boten zu akzeptieren.

Was gibt Ihnen sonst noch Kraft?
Das sind die Menschen um mich herum, meine Familie, Partnerin, Freunde. Ich fühle mich eingewoben in Beziehungen, die mich nähren, inspirieren. Meine Kirchenpflege, die Verantwortlichen in der Landes kirche engagieren sich sehr für mich. Seit Anfang Jahr arbeite ich wieder. Auch mein Selbstverständnis als Pfarrer, das ich jetzt bald 28 Jahre lang gelebt habe, muss ich neu definieren. Ich habe einen schönen, kreativen und intensiven Beruf. In existenziellen Situationen darf ich Menschen begleiten, Lebensübergänge gestalten. Neu muss ich lernen, in den vom Körper diktierten Rhythmus zu kommen und nicht nur dem Rhythmus der Aufgaben zu folgen.

Was raten Sie anderen Paraplegikern?
Jede Geschichte ist einzigartig. Jede und jeder muss seinen Transformationsweg finden. Ich versuche, der Stimme des Körpers zu folgen und auf sie zu hören. Gerade, wenn sie vom Schmerz erzählt. Ich lote aus, was mein Körper noch zulässt. Respektiere mich so, wie ich bin, mit meinen neuen Limiten, richte den Blick aber primär auf meine Ressourcen. Auf das, was möglich ist und nicht auf das, was nicht mehr geht. Können Sie in Ihren Träumen noch gehen? Im Traum gehe ich oft noch. Selten träume ich mich im Rollstuhl.

Was sind Ihre Wünsche?
Dass mein Haus im bündnerischen Vrin bald rollstuhlgängig wird. Vrin ist meine Oase, meine Heimat. Ach ja, heimischer möchte ich in meiner neuen Lebenssituation werden. Dass mein Leben vom Ausnahmezustand vermehrt zum Alltag wird. Ich schaue nicht in den Rückspiegel. Mich interessiert, was vor mir liegt, denn ich bin überzeugt, dass das Beste immer vor uns liegt.

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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