Von Danica Gröhlich, 2. September 2020
Nägelkauen gegen den alltäglichen Stress? Warum wir das tun, wer besonders schwer daran zu nagen hat und was dagegen hilft.
Abgebissene Nägel und abgeknabberte Haut, teilweise bis aufs Blut: Fingernägelkauen ist ein Laster, das erstaunlich viele teilen. Das Kauen endgültig an den Nagel zu hängen, fällt schwer. In welchen Situationen die Hand zum Mund wandert und wie sich der Drang bremsen lässt, weiss Prof. Dr. med. Michael Rufer, Chefarzt und stellvertretender Direktor an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Herr Professor Rufer, haben wir häufig an den Nägeln zu kauen?
Tatsächlich kauen viele Menschen an ihren Nägeln. In etwa machen das 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Zudem kaut jeder zehnte Erwachsene an seinen Nägeln – und das recht ausgeprägt. Das heisst, diese Personen sind nicht nur ein bisschen nervös und haben kurz die Finger im Mund. Nein, sie kauen intensiv oder aus Gewohnheit regelmässig.
Ich kenne eigentlich nur Männer, die Nägel kauen.
Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie es nur bei Männern so offensichtlich sehen. Denn eigentlich kauen Männer wie Frauen gleichermassen. Frauen legen aber oft mehr Wert auf schöne Nägel, deshalb stört es sie mehr und sie schauen eher, was es für Lösungen gäbe.
Doch warum wird überhaupt am Finger herumgebissen? Sie haben von Gewohnheit gesprochen.
Die Gründe fürs Nägelkauen sind sehr individuell. Einige machen das in der Tat bereits automatisiert. Andere leiden unter dauerhaften Ängsten oder Gefühlen von Unzufriedenheit. Das Nägelkauen dient dann als Flucht. Auch Langeweile kann ein Auslöser sein, ebenfalls für andere zwanghafte Handlungen wie das Haare-Ausreissen und Hautkratzen. Das sind ähnliche Verhaltensweisen. Wir bezeichnen das Nägelkauen nicht als Sucht, sondern als Impulskontrollstörung. Bei Stress verstärkt sich diese Handlung häufig.
Die Gründe fürs Nägelkauen sind sehr individuell.
Dann gab es in der Corona-Krise einen Anstieg an Nägelkauenden?
Ich weiss von einer meiner Patientinnen, dass sie nach der Behandlung wunderbar ohne Nägelkauen zurecht kam. Doch während des Lockdowns kam der Rückschlag. Einerseits aus Angst vor dieser ungewissen Situation und andererseits, weil sie zu Hause einfach mehr Zeit hatte. Das Nägelkauen habe sich dann wieder eingeschlichen, wie sie mir erzählte. So erging es vielleicht auch anderen. Es ist aber noch zu früh, hier generell von einem Anstieg und im Speziellen von einem Rückfall zu sprechen. Vielleicht verschwindet dieser Impuls auch wieder.
Neben den körperlichen Schmerzen schämen sich auch viele für ihre «angefressenen» Hände.
Genau. Deshalb ist wichtig, sowohl die körperlichen als auch die psychischen Folgen zu sehen, die das Kauen auslösen kann. Infektionen können Resultat des Nägelkauens und des Abbeissens der Nagelhäutchen sein, welche direkt an die Nägel anschliessen und den nicht sichtbaren sowie noch weichen Nagel schützen. Ebenso sind Nagelwachstumsstörungen möglich, wobei die Nägel dann mit Rissen unschön nachwachsen. Häufiger sind aber psychische Folgen mit Scham und Schuldgefühlen, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. Die Betroffenen wollen ihre Hände verstecken. Sie ziehen sich zurück und versuchen, soziale Situation zu meiden. Falls das nicht geht, passen sie ständig auf, wo ihre Hände sind. Neben der Scham kämpfen sie gegen Schuldgefühle. Denn sie wissen, sie tuen etwas, was sie verunstaltet, was sie nicht im Griff haben. Dieser Kontrollverlust wird als sehr unangenehm erlebt.
Wie reagiert das Umfeld oder die Familie am besten?
Wenn bei Kindern zum Beispiel Stress oder andere Schwierigkeiten dahinter stehen, sollte man es bei diesen Problemen unterstützen. Nägelkauen ist bei Kindern aber oft eher eine Angewohnheit und es bestehen gute Chancen, dass das Kauen an den Nägeln aufhört, wenn sie älter werden. Anstatt das Kind immer wieder aufs Kauen anzusprechen, halte ich es für sinnvoller, es zur Abgewöhnung abzulenken. Machen Sie das Nägelkauen nicht ständig zum Thema! Das verunsichert nur. Bei Erwachsenen rate ich dazu, diesen Punkt anzusprechen, unterstützend und ohne Vorwürfe. «Ich sehe, dass du oft an den Nägeln kaust. Das macht mir Sorgen.» Wichtig ist zu sehen, dass der Betroffene mit dem Nägelkauen nicht absichtlich ein schlechtes Verhalten an den Tag legt, um den anderen zu ärgern. Hier empfehle ich, Hilfe anzubieten: «Ich finde es störend, dass du immer die Hände im Mund hast. Wollen wir zusammen überlegen, was man dagegen tun kann?»
Was halten Sie von bitterem Nagellack, um vom Kauen abzuhalten?
Das reicht meistens nicht als Lösung, denn die Bitterstoffe auf den Nägeln sind nur eine passive Massnahme. Die Person hat nichts Neues gelernt etwa im Umgang mit Stress. Ausserdem kann man sich mit der Zeit auch ans Bittere gewöhnen oder den Lack nicht regelmässig anwenden. Als Ergänzung zu anderen Massnahmen kann der Bitterlack aber hilfreich sein, beispielsweise als Test, um festzustellen, wann genau ich eigentlich an meinen Nägeln kaue.
Das Kauen endgültig an den Nagel zu hängen, fällt schwer.
Was hilft denn gegen das leidige Nägelkauen?
Am Anfang steht die Selbstbeobachtung: Wann tritt das Nägelkauen auf? Führen Sie ein Protokoll, um zu merken, in welcher Situation die Hand zum Mund wandert. Entwickeln Sie dann eine Technik, um die Hand in diesen Momenten nicht zum Mund zu führen. Wenn Sie den Drang verspüren, könnten Sie etwa einen kleinen Ball in die Hand nehmen oder sich auf die Hände setzen. Damit der Impuls abnimmt, kann es helfen, den Fingern eine ähnliche Reizempfindung zu geben, wie es der Mund macht. Etwa die Nägel statt mit den Zähnen mit den Fingerkuppen zu berühren.
Wie funktioniert die Entkopplungsmethode?
Bei der sogenannten Entkopplungsmethode geht es darum, einen Teil der Handlung durchführen, diese dann aber umzulenken. Wenn die Hand auf dem Weg zum Mund ist, sie zum Beispiel mit Schwung wegzustrecken. Das Wegstrecken ist dann weniger zwanghaft und kann später leichter weggelassen werden. Wenn aber ungelöste Konflikte bestehen, dann sind diese Probleme im Hintergrund nicht einfach weg. Die Rückfallgefahr bleibt. Wenn beispielsweise am Arbeitsplatz erneut eine schwierige Situation auftritt und eskaliert, ist das Nägelkauen wieder da. Wofür steht also das Symptom? Es kann auch eine Depression und Angststörung dahinter stehen. Wenn starkes Nägelkauen nicht in Selbsthilfe lösbar ist, kommt eine Psychotherapie in Frage.