«Das Gehirn leidet unter Dauerinformation»

Interview Jeanne Fürst und Danica Gröhlich, 27. August 2020

(pixabay)

Patienten mit dem Visual-Snow-Syndrom sehen die Welt wie durch ein Fernsehflimmern. Der Neurologe Christoph Schankin ist ein Pionier im Erforschen des Krankheitsbildes.

Herr Schankin, was hat das Visual-Snow-Syndrom mit Schnee zu tun?
US-Patienten beschrieben in den Neunzigerjahren erstmals ihre Beschwerden als Fernsehrauschen, auf Englisch «TV-Snow». Seit 2014 gilt das Visual-Snow-Syndrom als eigenständiges Krankheitsbild, meist unabhängig von einer Migräne-Aura.

Was sind die Unterschiede?
Eine Aura gilt als neurologischer Ausfall der Hirnrinde, ist kurzzeitig und kündigt eine Migräne-Attacke an. Nach etwa einer Stunde Augenflimmern setzen die Kopfschmerzen ein. Beim Visual-Snow-Syndrom haben Patientinnen und Patienten permanent ein verrauschtes Sehen mit weiteren Beschwerden. Etwa Nachbilder: Sie schauen einen Stuhl an, gucken weg, sehen ihn aber immer noch.

Tauchen die Symptome aus dem Nichts auf?
Tatsächlich können diese über Nacht auftreten. Ein klares Muster, wodurch die Sehstörung ausgelöst wird, haben wir nicht gefunden. Aber: Manche haben das Syndrom sogar seit Geburt. Sie wundern sich dann, dass andere statt Rauschen ein kristallklares Bild wahrnehmen.

Christoph Schankin, Privatdozent, Oberarzt für Neurologie am Inselspital Bern

Wie häufig ist das Visual-Snow-Syndrom?
Eine von 200 Personen könnte darunter leiden. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Während Frauen durch hormonelle Schwankungen eher unter Migräne leiden, sehen wir das Visual- Snow-Syndrom bei Frauen und Männern gleich oft. Ein Viertel hat es seit Geburt, der Rest bekommt es im Durchschnitt im Alter von 21 Jahren. Ein dramatisches Ereignis für so junge Menschen! Sie sehen alles normal, und dann ist die Welt plötzlich eine andere. Selbst mit geschlossenen Augen. Sie können sich nie erholen. Das Gehirn leidet unter Dauerinformation

Helfen Medikamente?
Leider nicht. Bei einigen können Präparate gegen Epilepsie wirken. Eine Therapie ist deshalb so schwierig, weil wir bislang nicht ganz verstanden haben, was hinter der Krankheit steckt.

Was gibt es Neues aus der Forschung?
Wir stehen am Anfang. Neue Daten zeigen, dass sich das Krankheitsbild nicht nur auf das Sehen beschränkt. Betroffen ist auch das limbische System im Gehirn, das für die Emotionen verantwortlich ist. Passend dazu haben Patienten Angst, Stimmungsschwankungen sowie Konzentrationsstörungen. Diese Symptome können wir besser lindern. Und: Wir nehmen den Patienten ernst, wir kennen das Krankheitsbild. Nach jahrelangem Ärztemarathon ohne Befund haben Betroffene endlich eine Diagnose und die Gewissheit, dass sie sich das, was sie sehen, nicht einfach nur einbilden und dass sie nicht erblinden. Wir können in der Forschung auch nicht zaubern, aber wir bleiben dran.

 

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