«Eine Schwangere ist nicht krank!»

Von Christian Franzoso, 29. April 2020

Gemütlichkeit auf dem Areal des Kantonsspitals Aarau. Dr. Monya Todesco Bernasconi (r.) und Hebamme Viviane Lareida in einem Zimmer des Geburtshaus Nordstern KSA. (zVg)

In heimeliger Umgebung natürlich und hebammengeleitet Kinder gebären. Und sich doch in Sicherheit der Spitzenmedizin wissen. Im Kantonsspital Aarau ist das möglich.

Aus Anlass des Internationalen Hebammentags am 5. Mai haben wir das Geburtshaus Nordstern KSA besucht. Die Gründung erfolgte 2017, und seit Oktober 2019 können Frauen hier in fünf gemütlich eingerichteten Zimmern mit Hilfe von Hebammen gebären. Das Geburtshaus befindet sich zwar auf dem Areal des Kantonsspitals Aarau (KSA), die Hebammen arbeiten aber in eigener Regie – ohne ärztliche Hilfe. Bahnt sich jedoch ein Problem an, können Gebärende sofort in die Frauenklinik des KSA verlegt werden. Dr. Monya Todesco Bernasconi, Chefärztin Geburtshilfe und Perinatalmedizin, und Beleghebamme Viviane Lareida über die Vorteile dieses schweizweit einzigartigen Modells und wieso es Männer so sehr begeistert.

Frau Dr. Todesco Bernasconi, die Idee, ein Geburtshaus auf dem Gelände des KSA zu führen, stammt von Ihnen. Wie kam es dazu?
Dr. Monya Todesco Bernasconi: Sie ist aus meiner tiefsten Überzeugung entstanden. Geburten sind ein natürlicher Prozess, und Frauen haben die Kraft und Fähigkeit, spontan zu gebären. In den meisten Fällen ist eine Geburt nicht gefährlich oder problematisch. Als Ärztin bekomme ich oft mit, dass Frauen Geburten erleben können, die keine medizinische Hilfe brauchen. Als Leiterin eines Perinatalzentrums weiss ich aber, dass es auch komplizierte Schwangerschaften und Geburten gibt – dafür sind wir da.

Frau Lareida, ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Ärztin, die eine Frauenklinik leitet, ein hebammengeführtes Geburtshaus auf einem Spitalareal initiiert? Was dachten Sie, als sie davon hörten?
Viviane Lareida: Ein tolle Idee! Und in der Tat unüblich. Aber eine gesunde Frau gehört nicht ins Spital. Ein Spital ist ja ein Krankenhaus – und eine Schwangere ist nicht krank! Die kurzen Wege zur Frauenklinik und zum Kinderspital auf dem Gelände des KSA sind eine super Lösung für Frauen, die natürlich gebären und sich trotzdem in Sicherheit einer Klinik wiegen wollen.

Dr. Monya Todesco Bernasconi: Und für die Männer vor allem.

Viviane Lareida: Ja, beim ersten Kind sind sie oft ängstlich und befürchten, dass etwas passieren könnte. Das Geburtshaus bietet ihnen Sicherheit.

Dr. Monya Todesco Bernasconi:
«Wir erfahren nicht, wenn eine Frau ins Geburtshaus eintritt und wenn eine Geburt beginnt.»

Der Mann kann also mit seiner Frau im Geburtshaus bleiben? Vor, während und nach der Geburt?
Viviane Lareida: Ja, der Mann oder eine andere Begleitperson. Frauen sollen nach der Geburt immer viel ruhen und liegen, damit sie sich schneller erholen. Sie sollen bedient und umsorgt werden. Das macht der Partner, den wir gut instruieren. Auch das nächtliche Wickeln kann er übernehmen. So kann der Mann viel Zeit mit seinen Liebsten verbringen, denn in der Vergangenheit haben mir Männer oft erzählt, wie schlimm es für sie war, als sie nach der Geburt ihres Kindes abends alleine nach Hause mussten.

Und der Partner kümmert sich auch um den Haushalt im Geburtshaus?
Viviane Lareida: Nein, sogenannte Gastgeberinnen waschen, kochen und putzen.

Das Geburtshaus befindet sich zwar auf dem Areal des KSA, aber Ärzte dürfen hier nicht arbeiten.
Dr. Monya Todesco Bernasconi: Ja, das ist vertraglich so geregelt. Wir erfahren nicht, wenn eine Frau ins Geburtshaus eintritt und wenn eine Geburt beginnt. Im Idealfall informiert uns die Hebamme, dass die Frau mit dem Kind wieder nach Hause ist.

Viviane Lareida: Wir sind sieben freischaffende Beleghebammen, die nicht vom KSA angestellt sind. Darum dürfen wir wiederum auch nicht in der Frauenklinik arbeiten.

Können die Hebammen Medikamente verabreichen?
Viviane Lareida: Wir Hebammen arbeiten hier nach den Leitlinien und Empfehlungen der Hausgeburtshilfe und darum ohne chemische Medikamente. Wenn eine Geburt problemlos verläuft, sind wir selbstverantwortlich. Während der Wehen ist die Hebamme alleine mit der Gebärenden. Für die letzte halbe Stunde der Geburt kommt noch eine zweite Hebamme dazu.

Was machen Sie, wenn es Probleme gibt?
Viviane Lareida: Läuft die Geburt nicht zu 100 Prozent reibungslos ab, sind wir verpflichtet, einen Arzt beizuziehen. Gebärende können wir sofort in die Frauenklinik verlegen und den Ärzten übergeben.

Dr. Monya Todesco Bernasconi: Bei einer Abweichung während der Geburt ruft die Hebamme unseren Dienstoberarzt an und informiert, warum die Frau verlegt werden muss. Diese wird dann im Rollstuhl direkt in die Frauenklinik gefahren. Zudem werden die Patientendossiers der gebärenden Frauen elektronisch im System des KSA geführt. Das heisst, dass alle Informationen sofort abrufbar sind. Das ist ein grosser Vorteil gegenüber Hausgeburten oder herkömmlichen Geburtshäusern.

Viviane Lareida: Im Geburtshaus und generell bei Hausgeburten können übrigens nur gesunde Frauen gebären, deren Kinder in der Längslage, also mit dem Kopf voran, liegen. Wenn sich das Kind in Beckenendlage befindet, kann eine Frau hier nicht gebären. Auch Zwillingsgeburten dürfen wir nicht durchführen.

Viviane Lareida:
«Eine gesunde Frau gehört nicht ins Spital.»

Welche Rückmeldungen haben Sie von Frauen erhalten, die hier geboren haben?
Dr. Monya Todesco Bernasconi: Es gab Frauen, die schon für die zweite Geburt zurückgekommen sind. Das freut uns natürlich sehr!

Viviane Lareida: Und es ist auch schon vorgekommen, dass Frauen, die für die Geburt wieder hierhergekommen sind, ihr Kind dabei hatten, das ebenfalls hier geboren wurde. Das ist das schönste Feedback, das wir erhalten können!


Aktuelle Informationen von Dr. Monya Todesco Bernasconi zu den Geburten während der Covid-19- Pandemie:

Im Geburtshaus Nordstern KSA können nur Frauen gebären, die komplett frei sind von Covid- 19-Symptomen. Auch deren Partner (bzw. die entsprechende Begleitperson) muss symptomfrei sein. Nach der Niederkunft darf der Partner weiterhin bis zum Austritt von Mutter und Kind im Zimmer bleiben. In den Räumlichkeiten finden keine Begegnungen mit anderen Familien oder schwangeren Frauen statt.

Sollten Covid-19-Symptome erst kurz vor der Geburt auftreten, wird die Gebärende sofort in die Frauenklinik des KSA verlegt. Der Partner darf in der Frauenklinik des KSA zurzeit nur bei der Geburt anwesend sein; im Normalfall können Begleitpersonen länger bleiben.


Christian Franzoso ist Redaktor bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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