Neue Medien und die Corona-Krise: Fluch oder Segen?

Von Danica Gröhlich, 15. April 2020

Kontakt trotz Corona: Neue Kommunikationsformen helfen gegen die Einsamkeit. (iStock)

Negativ-News auf allen Kanälen können krank machen. Gleichzeitig bringen uns soziale Medien trotz Social Distancing näher. Was ein Medienpsychologe rät.

«Auch ich bin seit einigen Tagen im Home-Office. Ich halte Meetings mit Mitarbeitenden und Studierenden sowie Vorlesungen online ab», erzählt Dr. Daniel Süss zu Beginn unseres Interviews. Wir erreichen den Professor für Medienpsychologie und Leiter des Psychologischen Institutes der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW zu Hause – ganz klassisch per Telefon.

Herr Prof. Dr. Süss, sind Social Media wie das Netzwerk Facebook wirklich so sozial?
Alle Medien – und Social Media im Speziellen – bergen Chancen und Risiken. Chancen deshalb, weil wir durch sie mit Freunden und Familie im Kontakt bleiben und uns gegenseitig aufmuntern können. Wir fühlen uns verbunden, auch wenn wir uns nicht treffen können. Ein Risiko sehe ich darin, dass in Zeiten von Corona Fake-News und Verschwörungstheorien über diese Kanäle rasch verbreitet werden. Das kann ängstliche Menschen in eine Negativ- Spirale bringen. Das kann soweit gehen, dass diese Personen esoterischen Alternativ-Erklärungen mehr Glauben schenken und Skepsis gegen offiziellen Behördeninformationen entwickeln. Alarmistische oder bagatellisierende Stimmen können Angst oder irrationales Verhalten wie Hamsterkäufe fördern. Für viele herrscht derzeit eine permanente Alarmstimmung, weil sie die aktuelle Lage stündlich in allen Medien mitverfolgen. Doch diese andauernd gefühlte Dringlichkeit birgt auf Dauer die Gefahr einer Erschöpfung. Als Ausweg wird nach Entlastung gesucht. Man fängt an, die Situation zu verdrängen: Mich kann es nicht treffen!

Prof. Dr. Daniel Süss, Leiter Psychologisches Institut der ZHAW und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Zürich (John Flury)

Wie kann sich eine solche Negativ-Spirale weiter äussern?
Ein Alarmzeichen ist, wenn die Flut von negativen Meldungen dazu führt, dass man nicht mehr an etwas anderes denken kann. Das kann eine depressive Stimmung oder Gereiztheit fördern. Oder, wenn sich jemand einsam fühlt und das Bedürfnis hätte, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, sich aber nicht dazu aufraffen kann und stattdessen einfach abwartet. Dann wäre es hilfreich, sich professionelle Hilfe zu suchen. Psychologische Beratungen werden auch online angeboten oder übers Telefon. Wenn jemand es nicht mehr schafft, sich anzuziehen oder Männer sich nicht mehr rasieren, dann kann das ein Anzeichen für eine negative Dynamik sein. Um nicht in eine diffuse, negative Stimmung zu geraten, empfehle ich, auch wenn man daheim bleiben muss, nicht den ganzen Tag im Jogginganzug herumzusitzen. Ziehen Sie sich an, wie wenn Sie zur Arbeit gehen. Bringen Sie eine Struktur in den Tag. Neben der Mediennutzung sollten wir einen Ausgleich suchen. Stellen Sie ein persönliches Genuss-Inventar auf: Was mache ich besonders gern? Was tut mir gut, und was habe ich schon lange nicht mehr gemacht?

Ein anderer Aspekt ist die permanente Verfügbarkeit von Medien. Was empfehlen Sie?
Genau, deshalb sollten wir eine Auswahl treffen. Welches sind die verlässlichsten Quellen und wann will ich diese konsumieren? Ein bewusster Medienumgang könnte so aussehen: Am Morgen Zeitung lesen oder am Mittag eine Radiosendung hören und abends noch die «Tagesschau». Also nicht permanent dran sein. Sonst besteht die Gefahr, dass man sich nicht mehr distanzieren kann. Eventuell ist es auch ratsam, Push-Meldungen am Mobiltelefon für eine Weile zu deaktivieren. Anders sieht es bei humoristischen Inhalten aus, die über Social Media weitergeschickt werden. Denn Humor ist eine wichtige Bewältigungsstrategie, um sich entspannen zu können.

Kinder im schulpflichtigen Alter sitzen derzeit im Selbststudium mehr als sonst am Computer. Wie sieht ein guter Medienumgang für sie aus?
Eltern sollten im Blick haben, dass ihre Kinder nach den Hausaufgaben nicht gleich auf eine andere Medienplattform wechseln. Dazwischen ein Musikinstrument zu spielen oder sich zu bewegen, wäre besser. Eine Rhythmisierung des Tages ist für Kinder besonders wichtig. Seien Sie aufmerksam für die Befindlichkeit ihres Kindes. Was für Angebote können Sie als Eltern machen? Zusammen kochen oder gemeinsam etwas in den vier Wänden unternehmen, was allen Spass macht. Die Schule ist auch ein sozialer Ort. Kinder vermissen ihre Freunde! Deshalb ist es jetzt für Kinder besonders wichtig, dass sie über diese Plattformen in Kontakt bleiben dürfen. Strenge Regeln dürfen hier jetzt auch etwas lockerer werden.

Wie sehen die Auswirkungen beim Home-Office aus? Ständig vernetzt, ständig erreichbar, also permanenter Stress?
Es ist die Aufgabe von Führungskräften, ihren Mitarbeitern klar zu kommunizieren, wann sie erreichbar sein sollten und wann nicht. Wichtig ist, den Angestellten Pausen, aber auch den Feierabend und die Wochenenden zu gönnen. Vorgesetzte sollten also nicht den Krisenmodus übertragen und die Arbeitnehmer mit Nachrichten bombardieren und somit ein falsches Signal setzen, dass sie permanent dranbleiben müssen.

Jeder kann bei Video-Konferenzen in die Wohnung der Kollegen oder sogar des Chefs schauen. Findet derzeit eine Vermischung von Beruf und Privat-Leben statt?
Die ungewohnten Einblicke können durchaus Nähe schaffen, was die Zusammenarbeit fördert. Beim Home-Office müssen wir uns aber auch abgrenzen können und sagen: Jetzt ist meine Arbeitsphase, und das ist mein Arbeitsplatz. Also nicht permanent zwischen Freizeit und Arbeit hin- und herpendeln. Virtuelle Meetings müssen geplant und eher kurz gehalten werden. Es kann auch guttun, sich über ein Videokonferenz-Tool zum gemeinsamen Kaffee zu treffen und zu plaudern. Denn für die meisten ist die Arbeitswelt, wie für die Kinder die Schule, ein sozialer Ort. Es gibt derzeit aber auch viele Menschen, die nicht mehr arbeiten können und erst lernen müssen, mit dem «unverhofften Sabbatical» umzugehen. Nutzen Sie diese Zeit für lange zurückgestellte Pläne oder suchen Sie sich ein freiwilliges Engagement, das sonst im Alltag keinen Platz findet.

Wir erfahren derzeit eine Welle der Solidarität dank Social Media. Werden neue Kommunikationsmittel in dieser Krisen-Situation plötzlich bedeutsamer?
Auch ältere Menschen erfahren nun, dass neue Medien eine gute Möglichkeit sind, um etwa über Skype mit den Enkeln weiterhin in lebhaftem Kontakt zu bleiben. Aber auch Briefe per Post zu schicken oder ein Tagebuch zu schreiben als «Dialog mit sich selbst» ist sinnvoll. Nur schon die Stimme übers Telefon zu hören, löst ein Gefühl von Verbundenheit aus. Hier ist zu unterscheiden, ob jemand alleine ist, sich aber trotzdem verbunden fühlt und weiss, dass man an ihn denkt. Bei Einsamkeit dagegen besteht die Unsicherheit, ob eben diese Verbundenheit noch vorhanden ist. Dieses Gefühl, sozial eingebunden und wichtig zu sein, entsteht auch, wenn man anderen helfen kann. Für jemanden etwas zu tun, wirkt sich positiv aus, sowohl für diejenigen, die etwas bekommen als auch für diejenigen, welche etwas geben können. Deshalb ist die Hilfe von jungen Menschen, die für ältere Personen in Isolation einkaufen gehen, für beide Seiten so wertvoll. Social Media erleichtern es, ein solches Solidaritätsnetzwerk aufzubauen. Aber es geht natürlich auch ohne Technik, indem ich mir einfach überlege, welche Nachbarn rundherum vielleicht Hilfe bräuchten…

Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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