Hilfe für Patienten ohne Diagnose

Von Danica Gröhlich, 19. Februar 2020

Ein langer Kampf für viele Menschen ohne Diagnose. (iStock)

Ein jahrelanger Leidensweg, Krankenakten mit 100 Seiten und doch keine ausreichende Antwort: Betroffene schöpfen dank einer Fachstelle wieder Hoffnung.

Allein die Vorstellung daran macht krank: Unerträgliche Schmerzen, ein Spiessrutenlauf von einer Arztpraxis zur anderen. Doch keiner kann helfen, niemand findet die Ursache. «Bis sie zu uns kommen, durchlaufen Patientinnen und Patienten ohne eindeutige Diagnose häufig einen sehr langen Leidensweg», erklären Dr. Jana Helena Habermann, Oberärztin in der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich USZ, sowie Prof. Dr. Dominik Schaer, stellvertretender Klinikdirektor.

Letzte Hoffnung auf Antwort

Beide engagieren sich für die Fachstelle für Patienten ohne Diagnose, die seit 2017 in Kooperation mit dem Kinderspital besteht. Im primären Kernteam arbeiten etwa vier bis fünf Kaderärztinnen und -ärzte aus den Fachbereichen Immunologie, Infektiologie, Innere Medizin, Allergologie und Geriatrie mit der Unterstützung von mehreren Assistenz-Stellen. Je nach Fall werden weitere spezifische Fachbereiche hinzugezogen. Bereits 80 Patientinnen und Patienten konnte das Team so betreuen. Es gibt zwar an allen Universitätskliniken Ärztinnen und Ärzte, die sich mit seltenen Krankheiten (siehe Info-Box) beschäftigen. Dank der zentralen Anlaufstelle bietet Zürich aber schweizweit ein einmaliges Angebot. Eine Hilfe, die gerne genutzt wird, ist sie doch meist die letzte Hoffnung auf Antwort.

«Häufig fehlt ein Überblick über das grosse Ganze.»

«In der Tat gibt es eine sehr hohe Anzahl an Patientinnen und Patienten, welche eine jahrelange Vorgeschichte mit vielen Arztbesuchen oder Spitalaufenthalten hinter sich haben ohne eine zufriedenstellende Antwort auf ihre Beschwerden zu bekommen. Oftmals gibt es keine eindeutige Diagnose», wie Dr.  Habermann, die Koordinatorin der Fachstelle, erläutert. Aufgrund verschiedener Arztbesuche fehle zudem sehr häufig ein Überblick über das «grosse Ganze». Habermanns Erklärung: «Es gibt viele Krankenakten und Arztberichte von teilweise mehr als 100 Seiten, welche wir dann in unserer Fachstelle studieren, schliesslich in der Sprechstunde diskutieren und erst einmal zusammenfassen.»

Wer Hilfe sucht

Nehmen denn solche Fälle zu, bei denen keine eindeutige Diagnose feststeht? Die beiden sind sich einig und erklären, dass das Gegenteil der Fall sei: «Die Diagnostik wird immer besser und schwere Krankheiten, welche jahrelang nicht diagnostiziert werden, nehmen eher ab.» Soziale Medien und kollektive Intelligenz im Internet spielen auch eine immer wichtigere Rolle. Denn: «Irgendwo auf der Welt ist sicher ein Mensch, der die genau gleichen Beschwerden hat und bei dem die Ursache aufgedeckt wurde. Man muss ihn nur finden.» Doch über die Jahre sei noch ein weiteres Phänomen zu beobachten: Die Menschen seien immer weniger bereit, Beschwerden – welcher Art auch immer – zu akzeptieren und beginnen auf eigene Faust nach Krankheiten und deren Ursachen zu suchen.

Gibt es denn eine typische Patientin oder einen Patienten, der sich von der Anlaufstelle doch noch Hilfe erhofft? «Grundsätzlich melden sich sowohl Frauen als auch Männer bei uns. Das hält sich im Grossen und Ganzen die Waage. Im Kinderspital gibt es auch regelmässig Anmeldungen von Eltern für ihre Kinder.» Das Alter sei zumeist zwischen 20 und 45  Jahren, könne jedoch sehr variieren.

«Irgendwo auf der Welt ist sicher ein Mensch, der die genau gleichen Beschwerden hat.»

Mit welchen Symptomen gelangen Betroffene an die Fachstelle? Die Beschwerden seien oft multifaktoriell und keiner «einzelnen» Krankheit unterzuordnen, wie die Oberärztin weiter ausführt. «Wir diagnostizieren eine hohe Anzahl an psychosomatischen Störungen. Darüber hinaus klären wir seltene genetische Erkrankungen, Immunstörungen, Muskel-schwächen oder Stoffwechselstörungen ab.» Eine seltene Erkrankung findet das Wissenschaftsteam nur in Einzelfällen. «Das ist dann aber für die Betroffenen sehr bedeutend.»

Den meist verzweifelten Menschen doch noch helfen zu können, spornt das Team der Fachstelle immer wieder aufs Neue an. Endlich die Ursache zu kennen und eine Diagnose zu haben, muss für Kranke eine unvorstellbare Erleichterung sein. Ein Fall blieb Habermann besonders in Erinnerung: «Bei einem Patienten, der über Jahre an einem schwersten Nesselfieber – einer krankhaften Reaktion der Haut mit Rötungen, Quaddeln und starkem Juckreiz – gelitten hat, konnten wir eine Störung im Immunsystem feststellen. Diese hat dazu geführt, dass gewissermassen die Bremsen versagt haben. Wir konnten dem Patienten mit einer spezifischen Antikörpertherapie so helfen, dass er sofort ab Beginn der Behandlung beschwerdefrei war.»

Der lange Weg bis zur Diagnose

Solchen Erfolgserlebnissen geht ein langer Prozess voraus. Beinahe schon Detektivarbeit ist gefragt. Doch zuerst erfolgt ein strenges Screening und Aufnahmereglement: Die Patientinnen und Patienten müssen via E-Mail Kontakt zur Anlaufstelle aufnehmen. (Die Adresse sowie weitere Informationen zum Vorgehen, finden Sie hier: www.zentrumseltenekrankheiten.ch) Nach positivem Entscheid über die Aufnahme in das Programm unterschreibt sie oder er eine Einverständniserklärung für die Teilnahme und füllt einen Fragebogen aus. Danach holt die Fachstelle sämtliche Unterlagen ein und vereinbart einen Sprechstundentermin. Dr.  Schaer, welcher der Fachstelle für Patienten ohne Diagnose vorsteht, muss aber um Geduld bitten: «Wir haben sehr lange Wartezeiten, im Schnitt etwa sechs Monate.» Erst dann erfolge eine interdisziplinäre Fallbesprechung im Experten-Komitee und anschliessend der Entscheid, ob weitere Diagnostik zielführend sein könnte.

Auch zu hohe Erwartungen von den leidenden Menschen, die endlich wissen wollen, was ihnen fehlt, muss das Team herunterschrauben. Denn eine seltene Erkrankung findet sich höchstens vereinzelt. Dafür kann Dr. Habermann die Betroffenen meist beruhigen: «Oftmals können wir ausschliessen, dass eine akut lebensbedrohliche Erkrankung besteht.» Doch der lange Leidensweg ist trotz Diagnose noch nicht zu Ende. Jetzt erst kann die Behandlung beginnen. Auch da nehmen die Fachpersonen die Kranken an die Hand, wie die Koordinatorin der Anlaufstelle abschliessend erklärt: «Wir helfen, den weiteren Weg aufzugleisen und die Personen, die nun endlich eine Diagnose haben, im Gesamtprozedere zu unterstützen.»


Was gilt als seltene Krankheit?

In Europa gilt eine Krankheit als seltene Krankheit, wenn sie weniger als einen von 2000  Menschen betrifft. In der Schweiz leiden etwa 580’000  Personen an einer seltenen Krankheit. Etwa sechs bis acht Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer seltenen Krankheit, meist schon im Kindesalter. Das kann eine seltene Art von Krebs sein oder eine angeborene Immunschwäche. Weltweit sind über 8000 seltene Krankheiten aufgelistet.

Weitere Informationen in der Sendung vom 1. Februar 2020.


Danica Gröhlich ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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