An Bord der guten Hoffnung

Von Nadine A. Brügger, 20. November 2019

Physiotherapeutin Maria Fortun Agud hat auf dem Spitalschiff vor allem mit Kindern gearbeitet. (z.V.g.)

Vor der Küste Afrikas liegt ein besonderes Schiff vor Anker. Die MS Africa Mercy ist weder Touristenboot, noch Frachter. Sie ist ein Spitalschiff.

Rund fünf Milliarden Menschen auf dieser Welt haben keinen Zugang zu medizinischer Hilfe. Das zeigt die Fachzeitschrift «The Lancet» in einem Bericht von 2015 auf. Rund 91 Prozent der Menschen, die keinen Zugang zu sicherer, bezahlbarer chirurgischer Versorgung haben, leben in der Sub-Sahara.

Dort legt die Africa Mercy an. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das grösste Spitalschiff der Welt geht jährlich während knapp zehn Monaten in einem afrikanischen Hafen vor Anker und bietet kostenlose Operationen und Behandlungen. Möglich ist das nur, weil zu jeder Zeit 400 Freiwillige aus rund 40 Nationen ihre Heimat zurücklassen und mit in See stechen. Genau das taten auch Physiotherapeutin Maria Fortun Agud und HR Business Partner Simone Wandfluh. Beide reisten vor einem Jahr an die Küste Guineas.

Mit Hand und Fuss

Mit einer jungen Patientin hat Fortun Agud noch immer Kontakt. Das Mädchen hatte eine Fehlstellung der Beine. Grund: Mangelernährung. Doch wen die Beine nicht tragen, der kommt auch nicht in die Schule, erhält keine Ausbildung, ist keine Hilfe auf dem Feld, findet keine Arbeit und keinen Partner. Der Eingriff auf dem Schiff hat die Chancen des Kindes sehr verändert. Entsprechend gross ist die Dankbarkeit. Eine Beziehung zu den kleinen Patienten aufzubauen, ist dennoch nicht immer einfach.

«Theoretisch sprechen in Guinea alle Französisch», sagt Physiotherapeutin Fortun Agud. Die Praxis sehe dann allerdings etwas anders aus. «Ich hatte zwei Kinder regelmässig gemeinsam in der Therapie. Beide hatten durch Mangelernährung eine heftige Fehlstellung der Beine. Das haben wir auf dem Schiff operativ korrigiert. Weil die Beine nach der Operation lange im Gips waren, mussten die beiden erst wieder Muskeln aufbauen. Ich habe darum mit ihnen Squats gemacht und irgendwann habe ich auf allen Vieren mit ihnen gespielt. Das fanden sie so lustig. Ich glaube, das hat vorher noch nie jemand mit ihnen gemacht. Die beiden Kinder wollten irgendwann kaum noch ohne einander sein. Die haben zusammen gelacht und manchmal auch gestritten. Aber als ich einen unserer Übersetzer gefragt habe, worüber die zwei streiten, meinte er: ‹Nichts, die beiden verstehen sich gar nicht. Die sprechen komplett verschiedene Dialekte.› Aber beim Spielen haben sie sich dann eben doch irgendwie verstanden. Das hat mich beeindruckt. Dass man mit Hand und Fuss, Mimik
und Gestik, immer irgendwie weiter kommt.»

Die Herausforderung für die Physiotherapeutin war allerdings nicht in erster Linie das Verständnis. «Nur wenige Patienten bleiben auf dem Schiff. Die meisten kommen nach der Operation zu regelmässigen Kontrollen. Dazwischen leben sie entweder wieder daheim, oder in einem der ‹Hope Center›, die ‹Mercy Ships› auf dem Festland einrichtet. Wir von der Physio geben ihnen dann immer Aufgaben mit. Aber weil die Menschen so wenig haben, mussten wir uns immer Übungen überlegen, für die man keine Hilfsmittel braucht. Denn nur schon einen Stuhl haben viele nicht bei sich zu Hause.»

Simone Wandfluh war für das Wohl der Freiwilligen an Bord verantwortlich. (z.V.g.)

Nachhaltige Hilfe

Weit verbreitet ist in Guinea dafür der Aberglaube. «Die Leute denken, dass Krankheit und Missbildungen eine Strafe sind. Nicht selten werden kranke Menschen darum von der Gesellschaft gemieden oder gar verstossen», erklärt Wandfluh.

Information und Aufklärung sind neben der medizinischen Behandlung grosse Themen an Bord. Lokale Ärzte werden besonders in Hygiene-Massnahmen geschult. «Die hygienischen Bedingungen in den lokalen Spitälern sind teilweise so schlecht, dass Patienten nicht wissen, ob sie nach einer Operation wieder lebendig aus dem Krankenhaus kommen. Dabei wäre mit besseren Hygienemassnahmen viel zu vermeiden», so Fortun Agud.

Dass allerdings schon viel Aufklärungsarbeit geleistet wurde, sah Wandfluh, die an Bord als Head Hostess für den Hospitalitybereich zuständig war. «Mercy Ships war in den vergangenen Jahren schon mehrmals in Guinea. 2013 hatte es noch sehr viele Kiefer-Gaumen-Spalten-Patienten – 2018 fand man nur noch fünf.» Die einheimischen Chirurgen hatten die Operationen selbstständig durchgeführt. Das zeige: «Der Wissenstransfer an die einheimischen Mediziner war erfolgreich.»

Bleibende Eindrücke

Wandfluh und Fortun arbeiten beide in der Privatklinikgruppe Hirslanden. Diese hat beschlossen, statt nur Geld in ein Hilfsprojekt zu investieren, möchte man auch selber mit anpacken. «Ein Jahr nachdem ich bei Hirslanden angefangen hatte, kam ein Flyer», erinnert sich Fortun Agud. Sie hatte bereits Freiwilligenarbeit geleistet, wollte unbedingt wieder und hat sich darum augenblicklich beworben.

«Hirslanden hat die Einsatzkosten für uns übernommen», erklärt Fortun Agud. Beide Frauen sind dankbar für die Erfahrung auf – und neben – dem Schiff. Fortun Agud reist bald wieder nach Guinea – um Freunde zu besuchen. Wandfluh sagt: «Afrika hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.»


Mercy-Ships – die Spitalschiff-Flotte

Die MS Africa Mercy liegt noch bis Juli 2020 im Hafen von Dakar, Senegal, vor Anker. Die Schiffsärzte praktizieren Zahn- und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. Zudem kommt, meist nach Verbrennungen und Verwachsungen, Plastische Chirurgie zum Einsatz. Orthopäden korrigieren Fehlstellungen der Beine oder Klumpfüsse. Augenärzte behandeln etwa den Grauen Star, Gynäkologen kümmern sich um postnatale Probleme und auf der allgemeinen Chirurgie werden teilweise fussballgrosse Tumore entfernt oder Leistenbrüche behandelt. Gerade wird an einem grösseren Spitalschiff gebaut. Dort sollen noch mehr Eingriffe möglich sein.

«Mercy Ships» ist nicht gewinnorientiert und finanziert sich vollständig aus Spenden. Die freiwilligen Mitarbeiter übernehmen alle Kosten selber. Während einige sich darum nur einen zwei- oder dreimonatigen Einsatz leisten können, bleiben andere über mehrere Jahre auf dem Schiff. Sie werden oft durch die Kirchen ihrer Heimatländer finanziert. Denn die Ideologie
von «Mercy Ships» ist stark christlich geprägt.


Die Autorin dieses Artikels, Nadine A. Brügger, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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