Die gute Nacht-Fee

Von Danica Gröhlich, 13. November 2019

Spenden Trost im Spital: Die freiwilligen Helfer der Krisenbegleitung. (z.V.g.)

Seit 25 Jahren begleiten Freiwillige schwerkranke oder ängstliche Patienten im Zürcher Stadtspital Triemli. Martha Wellauer-Kuratli über ihre nächtlichen Begegnungen.

Wenn es in der Nacht still wird im Spital, erwachen bei kranken Menschen oft Ängste und Sorgen. Dann kann es tröstlich sein, jemanden bei sich am Krankenbett zu wissen, der mit einem spricht oder alleine durch seine Anwesenheit beruhigt und so den ersehnten Schlaf bringt. Am Stadtspital Triemli in Zürich übernehmen Freiwillige diese Herzensaufgabe. Eine von ihnen ist die 67-jährige Martha Wellauer-Kuratli. Die Pensionärin ist ausgebildete Buchhändlerin und war Sozialdiakonin und Erwachsenenbildnerin. Seit genau zwei Jahren engagiert sie sich für die freiwillige Krisenbegleitung, kurz Kribe. Bereits 52 Nächte war sie für andere da und hat ihnen durch die dunklen Stunden geholfen. Da auch alle Freiwilligen der Schweigepflicht unterstehen, spricht die Krisenbegleiterin über ihre bewegenden Erfahrungen von «Menschen» oder «Personen».

Frau Wellauer-Kuratli, weshalb machen Sie Krisenbegleitungen?
Es ist für mich eine Freiwilligenarbeit, die mich herausfordert, ein soziales Engagement in unserer Gesellschaft. Ich habe Interesse an verschiedenen Lebensentwürfen, an Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Diese Aufgabe ist eine echte Bereicherung und eine Lebensschule für mich. Ich mache das auch aus Dankbarkeit für meine Ressourcen.

Mit dem Herzen dabei: Die
Krisenbegleiterin Martha Wellauer-Kuratli. (z.V.g.)

Wie läuft ein Einsatz ab?

Um etwa 15 Uhr des entsprechenden Einsatztages erhalte ich per Telefon die Informationen: Name, Station und Zimmer der betreffenden Person und einige Stichworte wie zum Beispiel: «Unruhe, Angst, terminal». So weiss ich, dass ich einen Menschen mit unheilbarer Krankheit im Endstadium durch die Nacht begleiten werde. Um 21.20 Uhr melde ich mich im betreffenden Stationszimmer, werde von der zuständigen Pflegefachperson ins Zimmer begleitet und kurz vorgestellt.

 

Während der Nacht steht mir eine Pause zu. Meist trinke ich dann einen Kaffee im Personalraum oder gehe für einen kurzen Spaziergang an die frische Luft. Morgens um 5.30 Uhr ist mein Einsatz beendet. Ich verabschiede mich im Zimmer sowie auf der Station und verfasse einen kurzen Rapport für die Kribe-Leitung.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Nacht im Spital?
Ja, mein erster Einsatz war bei einer sehr freundlichen, älteren Person nach einer grösseren Herzoperation, geplagt von Unruhe. Es entwickelte sich ein sehr interessantes Gespräch. Dazwischen kurze Schlafphasen, Schweigen, Nachfragen, was die Person möchte. Mitten in der Nacht habe ich dann aus der Zeitung vorgelesen – ein politischer Hintergrundbericht wurde gewünscht mit anschliessender Diskussion, dann Sportberichte. Am Morgen wurde ich mit einem grossen «Danke» verabschiedet und als «gute Nacht-Fee» bezeichnet. Für mich ein sehr positiver, motivierender Einstieg in diese Aufgabe.

Welche weitere Nacht ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
Die Stunden mit einer jüngeren, schwerstkranken Person im terminalen Stadium, abgemagert und schwach. Aber kognitiv sehr wach mit bohrenden Fragen zu Leben und Sterben. Sie sitzt im Bett, obwohl die Kraft kaum reicht und sie Unterstützung braucht. Ich sitze stundenlang daneben, versuche etwas Halt zu geben und bin sehr berührt von dieser zutiefst menschlichen Erfahrung von Vertrauen, Herausforderung, Anteilnahme und intensiven Gesprächsmomenten.

Ist es denn möglich, in nur einer Nacht eine Beziehung aufzubauen?
In einer Nacht ist sehr viel möglich an Austausch und Beziehung – verbal und nonverbal. Ich lasse mich in dieser einen Nacht auf diesen Menschen ein, erfahre und gewähre Nähe oder erlebe Distanz, räumlich und auch im Gespräch. Beides hat seinen Platz und ist gut so. Der Moment zählt. Ganz Da-Sein für diesen Menschen – dazu in der Nacht – jedes Mal eine neue, besondere Erfahrung.

Was denken Sie seit Ihrem Freiwilligendienst übers Kranksein und Sterben?
Ich verstehe Kranksein und Sterben als Teil des Lebens. Sterben kann auch sehr schön sein: am Ziel ankommen, Ruhe und Frieden finden. Andrerseits ist diese Aufgabe auch sehr schwierig, weil ich die Verzweiflung, die Klagen und Schmerzen mitaushalten muss ohne «helfen» zu können.

Wie gehen Sie damit um, wenn jemand stirbt?
Eine tiefe, jedes Mal berührende Erfahrung. Oft mit Erleichterung verbunden, aber auch mit Trauer und Betroffenheit. Ein Gefühl von Dankbarkeit für das Leben und Sterben sowie Ruhe und Frieden finden. Manchmal auch Staunen, wie schnell der Tod einen Menschen zeichnet und verändert.

Konnten Sie sich darauf vorbereiten?
Wir haben regelmässig eine Intervision und Weiterbildung in unserer Kribe-Gruppe. Bei Bedarf stehen die Spitalseelsorgenden oder auch die Pflegedienstleitung für ein persönliches Gespräch zur Verfügung. Zu Beginn mussten wir alle einen fünftägigen Einführungskurs absolvieren. Zudem bilde ich mich mit Fachliteratur weiter, besuche verschiedene Kurse sowie Vorträgeund pflege den Austausch.

Würden Sie für sich auch eine Begleitung wünschen?
Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht sagen, ob ich ebenfalls eine Begleitung möchte. Mir ist es sehr wichtig, dass Menschen in der Sterbephase nicht gestört werden und ihren eigenen Weg gehen können und wahrscheinlich auch müssen. Dies ist ein grosses Geheimnis – und vielleicht ist es doch gut, dass jemand da ist…


Krisenbegleitung mit Tradition

1994 brachte Dr. Raoul Pescia, der damalige Chefarzt für Nuklearmedizin und Radiotherapie am Stadtspital Triemli in Zürich, von einer Reise nach Kanada eine Idee mit: Freiwillige sollten für einsame, ängstliche und sterbende Patienten menschliche Präsenz bieten. Pfarrer Claude Fuchs, der damals die reformierte Seelsorge leitete, sprach diese Idee aus dem Herzen. Zusammen mit dem Pflegedienst im Triemli entstand so die Freiwillige Nacht- und Krisenbegleitung Kribe. Von ursprünglich gegen 50 Freiwilligen besteht bis heute eine Gruppe aus rund 25 Freiwilligen mit 21 Frauen und 4 Männern. Diese sind bereit, zweimal im Monat eine Nacht bei Patientinnen oder Patienten zu verbringen und ihnen durch ihre Anwesenheit etwas Geborgenheit zu bringen. Oft können so auch Angehörige entlastet werden. Wer für die Nacht eine solche Begleitung wünscht, sollte das Pflegepersonal möglichst noch vor 16 Uhr darum bitten. Derzeit findet eine neue Rekrutierungsstaffel von Freiwilligen in der Kribe statt.

Informationen oder Anmeldung für den Freiwilligendienst auf: www.triemli.ch/kribe


Die Autorin dieses Artikels, Danica Gröhlich, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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