Langsames Abtauchen ins Vergessen

Von Danica Gröhlich, 18. September 2019

Eine Demenz beginnt schleichend.

Aktuell sind 151’000 Menschen in der Schweiz an Demenz erkrankt. Ein Leiden, das für Angst sorgt.

«Die Diagnose Demenz kann eine Erleichterung sein. Denn wir geben den Symptomen endlichen einen Namen», erklärt Dr. med. Irene Bopp-Kistler. Sie ist Leitende Ärztin an der Universitären Klinik für Akutgeriatrie am Stadtspital Waid in Zürich. Die Expertin für Demenzerkrankungen muss jedes Jahr etwa 500 Personen diesen Befund mitteilen. «Ich nehme mir Zeit und versuche, die Patienten, aber auch die Familie, aufzufangen bei all den Ängsten, die dann kommen.»

Frau Dr. Bopp, die meisten fürchten sich vor dieser Erkrankung. Kann das Verlegen eins Schlüssels beginnende Demenz sein?
Wir alle werden vergesslich, wenn wir älter werden. Bereits mit etwa 30 Jahren ist unsere maximale Hirnleistung erreicht. Natürlich verlege auch ich ab und zu etwas, aber ich kann mich erinnern, wo der Schlüssel sein könnte. Ein Demenzkranker dagegen nicht. Bei Gesunden ist das Gedächtnis vom Vortag immer noch da. Eine meiner Kontrollfragen lautet deshalb: «Was hatten Sie gestern zum Znacht?»

Dr. med. Irene Bopp-Kistler, Geriaterin und Herausgeberin des Buches «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven» (rüffer & rub, 2016) z.V.g.

Bei welchen Anzeichen ist denn eine Abklärung angezeigt?
Generell dann, wenn die Symptome einen verunsichern – den Betroffenen selber, wie auch die Angehörigen. Demenz führt schrittweise immer zu einer Einbusse im Alltag. Betroffene können plötzlich nicht mehr kochen, Einzahlungen machen oder eine Waschmaschine bedienen. Berufstätige erhalten eine schlechte Beurteilung. Auch privat kommt es zu Spannungen, falls Demenzkranke ihre Vergesslichkeit zu kaschieren versuchen oder falsche Anschuldigungen machen: «Nicht ich habe den Schmuck verlegt, es hat ihn jemand gestohlen.» Je früher eine Abklärung erfolgt, desto besser. So lassen sich viele Konflikte vermeiden. Denn Klarheit ist der erste therapeutische Schritt!

Wie diagnostizieren Sie Demenz?
Zuerst mittels Anamnese, also dem Erfragen, was sich im Alltag verändert hat. Wie geht das Lesen, Einkaufen oder die Arbeit am Computer? Dann erfolgt eine klinische Untersuchung des Gehirns mit Bildgebung, dem MRI, um Tumore oder Blutungen auszuschliessen. In der sogenannten Memory-Klinik werden alle Hirnfunktionen getestet und mit Personen gleichen Alters und Bildungsstand verglichen. Eines dieser Verfahren, das zur Erstabklärung auch der Hausarzt machen kann, ist der Uhrentest, bei dem der Patient ein Zifferblatt mit einer bestimmten Uhrzeit zeichnen soll. Je fortgeschrittener eine Demenz, desto schwieriger gestaltet sich der Test. Die gezeichnete Uhr wird immer unkenntlicher, Ziffern und Zeiger sind falsch eingesetzt oder fehlen ganz.

Was wissen Sie über die Ursache?
Meine jüngste Patientin ist erst 40 Jahre alt. Selten trifft eine Demenz auch Kinder. Hierbei handelt es sich um eine genetische Form, die familiär gehäuft auftritt. Trotz intensiver Forschung kennen wir die Ursache für eine Demenz aber nicht. Wir wissen nur, dass Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen auch das Demenzrisiko leicht erhöhen. Ein gesundes Leben kann den Beginn hinauszögern, doch eine Demenz ist und bleibt Schicksal.

Können wir trotzdem vorbeugen?
Die meisten meiner Patienten haben gesund gelebt, sind sportlich und nicht übergewichtig. Wir kennen nur einige Risikofaktoren. Sicher ist nur: Alles, was dem Herzen gut tut, tut auch dem Hirn gut. Also Bewegung sowie eine mediterrane Ernährung mit grünem Gemüse, wenig rotem Fleisch, dafür Fisch mit wertvollen Omega-3-Fettsäuren. Geistige Betätigung unterstützt zudem die Reserven des Gehirns. Also stets etwas Neues lernen. Hirnjogging ist das Beste.

Was eignet sich als Gehirnjogging?
Zum Beispiel eine neue Sprache oder ein neues Spiel zu lernen. Also nichts, was man bereits im Langzeitgedächtnis hat, wie immer wieder die gleichen Kreuzworträtsel zu lösen. Haben Sie den Mut, einen neuen Kurs zu besuchen oder beim Wandern einen neuen Weg auszukundschaften. Überhaupt ist Bewegung an der frischen Luft mit viel Sauerstoff gut fürs Gehirn. Auch Tanzen, Singen, Musizieren oder einfach nur Musik zu hören. Neulich habe ich «Bridge Over Troubled Water» von Simon & Garfunkel gehört. Mit einem Schlag war meine Jugenderinnerung wieder da. Wir haben deswegen eine Musiktherapeutin, es gibt zudem Tanzcafés. Das wirkt auch vorbeugend besser als jedes Gedächtnistraining. Mein Rat zur Hirnstimulation: Machen Sie etwas, das Ihnen Freude bereitet!

Für das Umfeld ist das Leben mit Demenzkranken sehr belastend.
Das Leben für und mit Demenzkranken sollte möglichst freudvoll sein. Weisen Sie als Angehörige möglichst nicht auf Defizite hin. Ständiges darauf aufmerksam machen, tut den Betroffenen nicht gut. Besser ist es, auch beim dritten Mal derselben Frage, zu antworten: «Dir ist es anscheinend ganz wichtig, dass du das unbedingt wissen willst.» Oder, wenn Alzheimerpatienten ständig «heim zur Mutter» wollen, obwohl diese schon lange nicht mehr lebt, sagen: «Gell, sie hat dir viel bedeutet?» Auf eine emotionale Ebene zu gehen, tut gut und baut Stress ab.

Nicht einfach, denn Demenzkranke werden oft aggressiv.
Eine sogenannte Frontale Demenz, bei der Nervenzellen des Gehirns im für die Steuerung von Emotionen zuständigen Stirn und Schläfenbereich zurückgehen, führt oft zu Verhaltensauffälligkeiten. Demenzerkrankte verhalten sich auch aggressiv, weil sie überfordert sind. In einem Heim kann es ihnen besser gehen: Sie werden in ihrem veränderten Sein angenommen wie sie sind. Viele Demenz-Patienten machen eine aggressive Phase durch, oft im Übergang bevor sie ganz in die Welt des Vergessens abtauchen.


Demenz oder Alzheimer?

Das Demenzrisiko nimmt mit dem Alter zu: Bei 60-Jährigen beträgt es wenige Prozent, bei 90-Jährigen bereits über 25 Prozent. Da sie älter werden, leiden mehr Frauen daran. Aufgrund steigender Lebenserwartung könnten 2040 in der Schweiz 300’000 Menschen mit Demenz leben. Demenz ist der Überbegriff für Krankheitsbilder, die sich auf den Verlust geistiger, emotionaler und sozialer Fähigkeiten beziehen. Etwa die Hälfte leidet an der häufigsten Form, einer Alzheimerdemenz, bei der sich Ablagerungen im Gehirn bilden und die Nervenzellen absterben. Eine Heilung ist nicht in Sicht. Es gibt jedoch Medikamente, die den Verlauf verlangsamen. Eine Früherkennung ist wichtig zur Verhinderung von Eskalation. Zu Beginn gehen die instrumentierten Fähigkeiten des Alltags verloren bis hin zum Pflegefall, wenn Betroffene basale Aktivitäten nicht mehr können, wie sich nach dem WC zu säubern. Zudem haben sie Mühe mit Essen. Sie kauen nicht mehr richtig, verschlucken sich oft. Es kann zur lebensgefährlichen Lungenentzündung kommen. Aufgrund koordinativer Probleme stürzen Demenzkranke häufig. Demenz ist wie alle neurologischen Leiden eine tödliche Erkrankung. Im Schnitt leben Demenzkranke nach Diagnosestellung noch acht Jahre.


Weitere Informationen:

Die Autorin dieses Artikels, Danica Gröhlich, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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