Sie rockt das Leben mit einer Hand

Von Danica Gröhlich, 21. August 2019

Einhändige Powerfrau: Valentina Mahler bei einem Auftritt mit ihrer Band «Call Me Clark». (Valerie Portmann)

Valentina Mahler studiert Internationale Beziehungen in Genf, leitet einen Jugendverein und wirbelt als Sängerin einer Frauenband über die Bühne.
Erst auf den zweiten Blick fällt auf: Die 22-Jährige kam mit nur einer Hand zur Welt.

Valentina Mahler steht zu ihrem Handicap. (zVg)

Frau Mahler, wie oft werden Sie gefragt, warum Sie nur eine Hand haben?
Erstaunlicherweise fragt kaum jemand. Weder in der Schweiz, noch auf meinen Reisen kürzlich durch Asien. Nur Kinder sind da sehr direkt. Sie haben keine Hemmungen. Finde ich aber cool. Sie werden so zu Brückenbauern. Ich rede dann mit ihnen und sie sind sofort deine Freunde.

Und wie erklären Sie den «kleinen Freunden» Ihre fehlende Hand?
Die Hand sei während des Wachsens in Mamis Bauch nicht ausgereift. Ist wohl einen Laune der Natur. Denn meine Mutter hat auch keine Medikamente während der Schwangerschaft genommen. Mein linker Arm ist verkürzt und mir fehlt die linke Handfläche, aber das Gelenk und fünf winzige Finger ohne Knochen habe ich noch. Für die bin ich extrem dankbar. Diese Fingerchen helfen mir bei kleinen Alltäglichkeiten, etwas zu halten oder beim Stricken.

Wann haben Sie das erste Mal realisiert, dass etwas fehlt?
So richtig bewusst wurde mir das, als ich als kleines Mädchen ein Musik-Instrument aussuchen sollte. Ich wollte unbedingt Harfe spielen. Doch die Lehrerin sagte mir gleich: «Nein, das geht nicht!» Das war schon krass. Ich landete auf dem harten Boden der Realität. Für einen Gitarrenlehrer war meine fehlende Hand jedoch kein Problem. Er schlug vor, die Gitarre einfach spiegelverkehrt zu halten. Ich habe mich dann doch für die Panflöte und Gesangsunterricht entschieden.

Erfahren Sie trotzdem Einschränkungen im Alltag?
Ich mache automatisch mehr mit der rechten Hand, was mir aber gar nicht mehr auffällt. Meine Arbeiten fürs Studium schreibe ich auf dem Computer im 5-Finger-System, drücke aber mit links auch Tasten. Ich suche meinen eigenen Weg. So versteht mein Vater bis heute nicht, wie ich es schaffe, meine Schuhe zu binden. Nur überhängend Klettern geht nicht. Dafür kann ich sogar den Handstand oder ein Rad schlagen. Man entwickelt Ehrgeiz, wenn man anders ist. Behauptet jemand: «Du kannst doch keinen Handstand!», dann machst du es erst recht.

Wie gehen Familie und Freunde damit um?
Zu Beginn war es für meine Eltern schwer. Dann haben sie aber gemerkt, dass es für mich ganz normal ist und ich bereits als Baby alles machen konnte, etwa mit einem Ball spielen. An mein Velo bekam ich eine Halterung, damit der Rücken durch meinen verkürzten Arm nicht schräg wird. Auch für meine drei jüngeren Geschwister war alles selbstverständlich. Nur manchmal fragten ihre Kollegen: «Was hat Valentina?». Erst dann realisierten sie, dass es um meine Hand ging. Ich erinnere mich auch gar nicht mehr, ob es meinem Freund beim ersten Treffen auffiel. Für mich war es aber am Anfang der Beziehung doch ein Thema. Ich wollte wissen, was er darüber denkt. Nervig wäre es, wenn er mich bevormunden oder mir ständig helfen wollte. Das macht er zum Glück nicht. Ich glaube, man hat automatisch nur coole Leute um sich. Menschen, die oberflächlich sind oder sich davon abschrecken lassen, werden wahrscheinlich gar nicht Teil meines Umfeldes.

Sie sehen durchwegs das Positive im Leben …
Ich hatte immer Glück. Das Positive überwiegt, sodass ich mir gar nicht überlege, was ich nicht kann. Wie eine Sonnenblume, die sich stets nach der Sonne ausrichtet und gar nicht merkt, dass hinter ihr Wolken sind. Als Kind hatte ich sicher auch andere Phasen. Ich leide noch unter Allergien und mit Neurodermitis an einer juckenden Hautkrankheit, was mich mehr stresst als meine fehlende Hand. Früher habe ich mich oft gefragt: «Wieso muss ich das auch noch haben?» Aber ehrlich: Wir leben hier in einer privilegierten Welt. Es kommt glücklicherweise nicht darauf an, ob du eine Hand weniger hast.

Eine Prothese war nie eine Option?
Seit ich klein bin, gehen wir jedes Jahr zu den Treffen des Vereins «Pinocchio» für Eltern mit Kindern ohne Finger, Hand oder Arm. Der Austausch mit anderen Betroffenen hilft. Ich hatte aber einen ziemlichen Schock, als ich einem anderen Kind die Hand geben wollte und diese aus Plastik war. Vielleicht bin ich einfach zu faul für eine Prothese. Für eine Studie habe ich auch schon eine Prothese getestet. Sie war eher hinderlich. Beim Velo fahren konnte ich zum Abbiegen den Arm nicht mehr heben. Ich lebe seit Geburt damit, bin so aufgewachsen. Nach einem Unfall wäre es wohl anders. Eine Prothese wäre nicht ich. Ich müsste mich verstellen. Bei Gesangsvorträgen damals fragte mich meine Mutter, ob ich eine künstliche Hand wolle. Ich lehnte ab. Wenn ich es auch sonst kann, dann muss es auch gehen, wenn ich im Rampenlicht bin.

Und nun stehen Sie als Sängerin der Luzerner Band «Call Me Clark» auf der Bühne.
Auf der Bühne will und kann ich mich nicht verstecken! In einer neuen Gruppe merke ich aber, dass ich unbewusst versuche, meinen linken Arm zu verbergen. Ich leite seit mehreren Jahren einen Jugendverein. Da war meine Fehlbildung jedoch nie wirklich ein Thema. Wenn du selber so selbstverständlich damit lebst, ist es für andere auch einfacher zu akzeptieren. Und wenn du gut arbeitest und das Beste willst, ziehen die Leute mit dir mit – egal, ob du eine Frau oder ein Mann bist, Locken hast oder eben nur eine Hand …

  • Hilfe für Eltern mit Kindern ohne Finger, Hand, Arm: pinocchio.ch
  • Konzerte von Valentina mit ihrer Band «Call Me Clark»: auf Facebook

Angeborene Fehlbildung

Der Begriff der Dysmelie umfasst die angeborene Fehlbildung von Gliedmassen. Laut Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) erfolgt die Anlage der Extremitäten zwischen dem 29. und 40. Tag der Schwangerschaft. In dieser Zeit können äussere Einflüsse wie Sauerstoffmangel oder Medikamente eine Dysmelie hervorrufen. In den 50er- und 60er-Jahren kam Dysmelie häufiger vor wegen des heute verbotenen Beruhigungsmittels Contergan. Genetische Fehlbildungen sind sehr viel seltener. In der Schweiz kommen bis zu 90’000 Kinder pro Jahr zur Welt, etwa 300 davon mit Hand-Fehlbildungen. Die Rate variiert je nach Dysmelie-Typ von 1:200 (z.B. Fingeranhängsel) bis 1:100’000 (Fehlbildungen wie das Holt-Oram-Syndrom mit Speichenfehlbildung und Herzfehler). In spezialisierten Sprechstunden versuchen Chirurgen, die funktionellen Einschränkungen zu beheben. Auch individuell angepasste Prothesen können helfen.


Die Autorin dieses Artikels, Danica Gröhlich, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.
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