Wenn Tabletten zur Sucht werden

Von Danica Gröhlich, 24. Juli 2019

Wenn Tabletten zur Sucht werden
Schlaftabletten können langfristig zu einer Abhängigkeit führen. (iStock)

Etwa 200’000 Menschen in der Schweiz greifen jeden Tag zu Schlaf- oder Beruhigungsmitteln. Besonders Senioren rutschen in die Medikamentensucht.

«Heimlicher Konsum ist in der Regel die Folge von ausgeprägtem Schuld- und Schamgefühl.» Wie leicht jemand in eine Sucht gerät und diese dann zu vertuschen sucht, weiss Dr. med. Margit Proescholdt. Sie ist Oberärztin am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.

Dr. med. Margit Proescholdt, Oberärztin Abhängigkeitserkrankungen, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel (zVg)

Frau Dr. Proescholdt, eine Schmerz- oder Schlaftablette kann nicht schaden, so die weit verbreitete Meinung. Wie rutscht jemand doch in die Sucht ab?
Häufig sehen wir sogenannte dysfunktionale Selbstmedikationsversuche. Dabei nimmt jemand auf eigene Faust Tabletten ein und versucht so, negative Emotionen wie Angst oder Wut zu regulieren. Auch innere Leere, Einsamkeit, Stress oder andere psychische Probleme können dazu führen. Typische Auslöser einer Medikamentensucht sind Überlastung, Schafstörungen sowie chronische Schmerzen. Viele Schlafmittel sind zwar verschreibungspflichtig. Hier können aber Abhängigkeiten entstehen, wenn die empfohlene Dauer oder Dosis überschritten wird.

Kann ein Arzneimittel nicht auch helfen, den Teufelskreis der Schlaflosigkeit zu durchbrechen?
Auch wenn zum Beispiel Benzodiazepine eine gute Wirkung bei Schlafstörungen, Ängsten, Depressionen oder Stress entfalten, sollten sie – wenn überhaupt – nur zeitlich begrenzt verordnet werden. Maximal vier bis sechs Wochen und nur nach Aufklärung über ihr Abhängigkeitspotenzial. Bei anhaltenden Beschwerden sind weitere Abklärungen notwendig und alternative Behandlungsansätze.

Wird denn ein Suchtverhalten erlernt oder ist das Risiko dazu gar genetisch bedingt?
Abhängigkeitserkrankungen sind multifaktoriell bedingt. Man geht von einem bio-psycho-sozialen Entstehungsmodell aus. Biologische Faktoren, ob jemand beispielsweise Alkohol verträgt, machen zusammen mit psychischen, etwa negative Kindheitserfahrungen oder eine Depression, und sozialen Faktoren wie Armut, Gewalt oder Schulabbrüchen das Gesamtrisiko für eine Abhängigkeitsentwicklung aus. Bei der Alkoholabhängigkeit ist etwa 50 Prozent des Sucht-Risikos genetisch festgelegt. Dafür ist nicht ein einziges, sondern viele Gene verantwortlich. Bis heute sind nicht alle bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person alle Risikogene in sich trägt, ist gering. Hier spielen auch umgebungsbezogene Faktoren eine Rolle wie bereits alkohol- oder drogenkranke Eltern.

Wer gerät am häufigsten in eine Schlaf- oder Schmerzmittelsucht? 
Generell greifen mehr Frauen und Personen in der zweiten Lebenshälfte zu Tabletten. Das Suchtmonitoring Schweiz geht davon aus, dass bei rund 131’000 Frauen und 69’000 Männern die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln problematisch ist. Diese schlucken die Substanzen seit mehr als einem Jahr und beinahe täglich. Die letztjährige Analyse der 2016 publizierten Daten zeigte zudem, dass mit steigendem Alter die Abhängigkeit von Schlafmitteln zunimmt. Sind es bei den 15- bis 19-Jährigen erst 1,8 Prozent, so springt ab 75 Jahren der Anteil auf 18,4 Prozent. Alte Menschen leiden oft unter Schlafstörungen, Einsamkeit durch den Verlust nahestehender Personen und chronischen Schmerzen – also den Hauptrisikofaktoren für Tablettenkonsum.

Wie machen solche Mittel süchtig?
Beim Belohnungslernen spielt das mesolimbische System im Gehirn eine zentrale Rolle. Es wird primär aktiviert durch Essen, Trinken, Sexualität. Die Aktivierung führt zur Ausschüttung von Dopamin. Dieses vermittelt ein Gefühl von Wohlbefinden und positiven Emotionen wie Freude. Es kommt zur positiven Verstärkung eines Verhaltens. Das System dient der Selbst- und Arterhaltung. Suchtmittel beeinflussen dieses Belohnungssystem: Sie erhöhen die Dopaminausschüttung direkt und indirekt.

Was sind mögliche Folgen eines Missbrauchs von Beruhigungs- und Schlafmitteln?
Durch Benzodiazepine kann es zu Wesensveränderungen, Zittern, Abnahme des Reaktionsvermögens oder Koordinationsstörungen kommen. Bei älteren Personen führt dies dann oft zu Stürzen mit lebensgefährlichen Verletzungen.

Warum will der Betroffene seine Sucht meist nicht wahrhaben? 
Mangelndes oder fehlendes Problembewusstsein ist bereits ein Symptom der Erkrankung. Dieses muss im Rahmen eines therapeutischen Prozesses langsam entwickelt oder aufgearbeitet werden. Bis Süchtige sich Hilfe suchen, braucht es Fremdmotivatoren sowie einen hohen Leidensdruck. Beispielsweise der Verlust des Jobs oder Fahrausweises, Partnerschaftskonflikte, psychische  oder schwere körperliche Probleme.

Was kann das Umfeld tun? 
Wichtig ist, offenes Ansprechen mit der Zusicherung auf Unterstützung. Auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe für Angehörige wäre eine Option. Ebenso können Suchtberatungsstellen und Ärzte weiterhelfen.

Wie läuft ein Entzug ab? 
Eine Medikamentensucht wird durch Fachpersonen, in der Regel Psychiater, behandelt. Je nach Dosis ambulant oder stationär. Nach ausführlicher Abklärung folgen Gesprächstherapien und der Entzug. Die Suchtmittel werden über mehrere Wochen langsam abgesetzt. Keinesfalls abrupt, da sonst die Gefahr von epileptischen Anfällen, schweren Angstzuständen oder akuter Verwirrtheit droht. Entspannungsübungen oder eine Bewegungstherapie mit Sport können zusätzlich helfen. Ohne eine geeignete Behandlung liegt die Rückfallquote zwischen 80 und 90 Prozent. Denn trotz Abstinenz ist und bleibt die Sucht eine chronische Erkrankung.


Bin ich süchtig?

Eine Abhängigkeit besteht, wenn drei der folgenden sechs Kriterien innerhalb der letzten 12 Monate zutreffen:

  1. Starker Wunsch oder Zwang, ein Suchtmittel zu konsumieren.
  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und Menge des Konsums.
  3. Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung/Reduktion des Konsums.
  4. Nachweis einer Toleranz. Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen des Suchtmittels hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich.
  5. Steigende Vernachlässigung von Interessen für den Konsum, erhöhter Zeitaufwand, die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, z.B. Leberschäden, Depressionen, kognitive Störungen.

(ICD-10, Internationale WHO-Klassifikation)


Die Autorin dieses Artikels, Danica Gröhlich, ist Redaktorin bei «gesundheitheute», der Gesundheitssendung am Samstagabend auf SRF1.

 

Empfehlen Sie diesen Beitrag weiter: